Freitag, September 02, 2016

Das gute Buch: Der Trafikant

Liebes Mecklenburg Vorpommern, liebes Dortmund, liebes Deutschland - bevor Du Dein Kreuz in der Wahlkabine machst, solltest Du dieses Buch lesen.

Auf der Rückseite des kleinen 250-Seiten-Bandes stehen die unvermeidlichen empfehlenden, bewertenden Sätze relevanter "Multiplikatoren": "Sensationell" - Christine Westermann. "Eine kleine Kostbarkeit" Elke Heidenreich

Immerhin ein Satz hilft mir in Inhalt und Absender weiter: "Für mich ist Seethaler ein großer Erzähler in der Tradition von Alfred Polgar und Joseph Roth." Gerhad Polt. Und damit weiß ich, das ich an der richtigen Adresse bin.


Der Trafikant ist feine, leichte Erzählung des "Coming of Age" des 17jährigen Franz Huchel. Der lebt eine glückliche Heidi-Kindheit im österreichischem Land, bis er - es ist das Jahr 1938 - von seiner mittellosen alleinerziehenden Mutter in die Stadt, nach Wien, geschickt wird, um in einem Tabak und Zeitungsgeschäft, einer sogenannten Trafik, zu arbeiten. 

Unter dem strengen Regiment des Trafikanten Otto Trnsjek, einem beinamputierten Veteranen des ersten Weltkriegs lernt Franz die Welt als Zeitungsleser kennen: "Die Zeitungslektüre nämlich sei überhaupt das einzig Wichtige, das einzig Bedeutsame und Relevante am Trafikantendasein; keine Zeitungen zu lesen hieße ja auch , kein Trafikant zu sein, wenn nicht gar: kein Mensch zu sein."

Vor dem Hintergrund der Irrungen und Wirrungen einer ersten Liebe, einer unerwarteten Freundschaft mit Sigmund Freud, "dem berühmten Deppendoktor", wird der in Österreich heraufziehende Nationalsozialismus mit Händen greifbar. 

Im Kleinen und Konkreten zeigt Seethaler, wie der Alltag mit Prater, Stammkunden und Wirtshausbesuchen zunehmend vom braunen Schatten der Weltgeschichte überdeckt wird. Nach dem "Anschluss" sind überall Hakenkreuzfahnen zu sehen, jüdische Familien wie die des "Deppendoktors" Sigmund Freud verlassen Wien, die Gestapo nimmt im Hotel Quartier und die ersten Menschen "verschwinden". Auch Franzens Lehrherr, der Trafikant Otto Trsnjek.

Und diejenigen, die immer schon einen Hass auf Andere, das, was ihnen fremd ist, Wut über das eigene Elend, die eigene Durschnittlichkeit und Ziellosigkeit oder den selbstbewussten Nachbarn haben, finden nun eine Aufgabe und Ziel. Wie Seethaler dies erzählt, lässt wirklich an Joseph Roths SPINNENNETZ denken.
"Am nächsten Morgen wurde Franz in seinem Kämmerchen von einem ungewöhnlichen Lärm geweckt. Draußen wurde die Tür mehrmals unter heftigem Geklingel aufgerissen und wieder zugeschlagen, wütendes Geschrei war zu hören. Franz erkannte Otto Trsnjeks aufgebrachte Stime, unterbrochen vom heiseren Bass des Fleischermeisters Roßhuber und immer wieder übertönt vom Gejohle einer kleinen Menschenmenge. So schnell es ihm sein erbärmlicher Zustand erlaubte, stieg er aus dem Bett und schlüpfte in seine Sachen. (...) Um die Trafik hatte sich ein kleiner Auflauf gebildet, in dessen Mitte sich Otto Trsnjek und der Fleischermeister wie zwei lauernde Jahrmarktringer gegenüberstanden. 
"ach, bist du auch schon aufgekrochen?", schrie ihm der Trafikant entgegen.
"Was ist denn los?", stammelte Franz.
"Mach halt die Augen auf!", Otto Trsnjeks Gesicht war dunkelrot, an seiner Schläfe wanden sich ein paar Adern wie ein Häuflein bläulicher Würmer. Mit einer seiner Krücken zeigte er zitternd vor Wut auf die Trafik. Das Trottoir und die Ladenfront waren mit einer rotbraunen Flüssigkeit beschmiert. Es sah aus, als hätte jemand mehrere Kübel Farbe oder Dreck verspritzt. An der Auslagenscheibe stand in großen, zerlaufenden Buchstaben: SCHLEICH DICH, JUDENFREUND!, und an der Mauer neben der Eingangstüre prangte ein rundes Gebilde, ungeschickt und offensichtlich eilig hingeschmiert, trotzdem aber eindeutig als riesiges, menschliches Hinterteil mit rudimentären Gesichtszügen zu erkennen: ein sogenannter "Arsch mit Ohren".
Franz tratt einen Schritt an die Auslage heran und berührte mit einem Finger vorsichtig das J vom JUDENFREUND. Die Schmiererei war anscheinend mit einem groben Pinsel aufgetragen worden und fühlte sich eklig an - an den Rändern trocken und verkrustet, an den etwas dickeren Stellen immer noch klebrig und feucht. Zudem verbreitete sie einen widerlichen Gestank: ranzig, süßlich, aber auch ein wenig sauer.
"Was ist das?", fragte er leise.
"Blut!", schrie Otto Trsnjek. "Schweineblut! Von unserem liebenswerten Nachbarn Roßhuber höchstpersönlich hingeschmiert!"
"Was erst zu beweisen wäre", meinte der Fleischermeister ruhig. "Außerdem ist das Blut nicht von einer Sau, sondern von einem Hendl. Das sieht ja wohl ein jeder!"
"Dann eben von mir aus von einem Hendl", brach es aus Otto Trsnjek heraus. "Und wer hat wohl den ganzen Tag mit den Viechern zu tun? Und wer ist so hirntot, sein Selbstporträt neben meine Tür zu pinseln? Und wer trägt schon ein halbes Leben das Hakenkreuz hinterm Revers und wartet nur auf die Gelegenheit, es hervorzukehren?"
"Was mir hinterm Kragen steckt, geht dich einen Scheißdreck an", meinte Roßhuber und verschränkte seine riesigen Arme vor der Brust. "Und das Portrait trifft schon genau den Richtigen!"
"Und deine Händ?", brüllte Otto Trsnjek.
"Was ist damit?"
"Da klebt ja noch Blut dran!"
"Was sollte den sonst dran kleben? Immerhin bin ich ein Fleischhacker!"
Otto Trsnjek schluckte. Für einen Moment sah es so als, als würde er seine Krücken fallen lassen und dem Fleischermeister an die Gurgel gehen. Doch plötzlich wandte er sich dem Kreis der Umstehenden zu, der sich immer enger um das Geschehen gezogen hatte und mittlerweile zu einer beachtlichen Menschenmenge angewachsen war.
"Dieser Mensch!", holte er aus. "Dieser sogenannte Fleischhacker - den man allerdings viel zutreffender als Wurstpanscher bezeichnen sollte, weil er nämlich seine Würste mit altem Fett und Sägemehl streckt -, dieser sogenannte Mensch und Wurstpanscher also, hat Blut an den Händen. Außerdem hat er Scheiße im Hirn und die schwarze Gemeinheit im Herzen. Und wenn man sich so umschaut, ist damit nicht alleine. Bis jetzt hat nur eine Sau dran glauben müssen. Oder von mir aus ein paar Hendln. Bis jetzt ist nur das Geschäft eines Trafikanten besudelt worden. Aber hier und heute frage ich euch: Was oder wer kommt als Nächstes dran?"
Niemand sagte wetwas, einige Leute grinsnten, einige schüttelten den kopf, jemand ging, andere kamen dazu und drängelten sich zwischen die Schaulustigen.
"Einer hat Blut an den Händen, und die anderen stehen da und sagen nix. So ist es immer!", fuhr Otto Trsnjek fort, während Roßhuber mit einem schiefen Lächeln daneben stand. "So ist es immer, so war es immer, und so wird es immer sein, denn so steht es wahrscheinlich irgendwo geschrieben, und so ist es eingeimpft in die unendlich blöden Schädel des Menschengeschlechts. Aber in meinen eben noch nicht, meine Herrschaften! Mein Schädel geht noch so, wie er selber will. Ich tanz nicht mit auf eurer Veranstaltung. Ich pflanz mir kein Hakrenkreuz hinters Revers, ich pansch keine Wurst, ich treib mich nicht im Dunkeln auf dem Trottoir herum, um unschuldige Häuser mit Arschgesichtern vollzuschmieren, ich schweige nicht, und an meinen Händen klebt kein Blut, sondern allerhöchstens Druckerschwärze!"
Plötzlich schien ihm die Kraft auszugehen. Sein Kopf sackte zwischen seine Schultern und er starrte aufs Pflaster hinunter. Für einige Sekunden war es still vor der Trafik. Nur die Krückengriffe, um die sich Otto Trsnjeks Finger krampften, knirschten leise. Schließlich gab er sich einen Ruck. Mit einem langgezogenen Schnaufer richtete er sich wieder auf, wandte sich dem Fleischermeister zu und spie ihm zusammen mit ein paar Spucketröpfchen die abschließenden Worte entgegen: "Und noch etwas, Roßhuber: 1917 hab ich für unser Land ein Bein in einem schlammigen Erdloch gelassen. Geblieben ist mir das eine hier. Es ist alt, ziemlich hüftsteif und fühlt sich manchmal ein bisserl einsam - aber für einen ordentlichen Arschtritt wird es notfalls immer noch reichen!"
Damit ließ er den Fleischermeister mitsamt den anderen Leuten stehen und verschwand mit zwei kräftigen Krückenschwüngen in seiner Trafik. Hinter ihm knallte die Tür derart heftig ins Schloss, dass die Scheiben schepperten und sich das Gebimmel der löcken zu einem geradezu stürmischen Fortissimo erhob.