Mittwoch, März 21, 2007

Peter Sloterdijk kann das besser

Die Geschichte der Menschheit lässt sich auch als eine Geschichte der mit Hilfmitteln überbrückten Distanzen beschreiben. Immer ging es den Menschen darum, die Möglichkeit, sich selbst an anderen Orten (und zu anderen Zeiten) zu anwesend zu machen und umgekehrt, sich abwesende Menschen zu vergegenwärtigen, zu steigern.

Die Langsamkeit der Kommunikationswege reizte die innovativen Kräfte immer neue, die Übermittlungsraten steigernde Techniken zu entwickeln. Am Anfang steht die Entwicklung der Schrift als Dokumentations- und Speicherungsform mentaler Prozesse, als außersubjektive Repräsentanz und Verbürgung der eigenen Vorhandenheit auch in Abwesenheit. Als nächstes kommt die Entwicklung der Trägermedien (Papier, Buch, Zeitung, etc.) und Systeme zum Transport der Kommunikationen: Vom zu Fuß laufenden Boten über die Postkutsche, die Brieftaube zur Telegraphie, der Eisenbahn (die den schnelleren, weitreichenderen fahrplanmäßigen Transport von Post ermöglichte) und - als sich parallel entwickelndes Nachrichtensystem - zum Telefon - stets ging es darum, die Intervalle der Informationsübermittlung zu verringern, die Verfügbarkeit anderer zu steigern (womit man freilich auch die Zugriffsmöglichkeit durch andere ermöglichte und mit entwickelte).

Die Zielvorstellung ist die permanent abrufbare, unmittelbare Verfügbarmachung einer abwesenden Person, bzw. die Einflussnahme an einem anderem Ort, als dem, an dem man sich befindet. Umgekehrt impliziert dies die Vorstellung, selber in Permanenz verfügbar und ein Durchlaufpunkt von Kommunikation zu sein, den Anschluss an die immer kontinuierlicher strömenden Kommunikationsströme zu suchen.

Eine Vorstellung und ein Wunsch, der seine vorläufige erste Erfüllung in den Flatrates hat, der dauerhaften Verfügbarkeit des Internets. Vorbei der Vorgang, seinen Modem einzustöpseln, den Wählvorgang zu starten, auf die Verbindungsherstellung zu warten und freudig gespannt dem Einwahlgeräusch zu lauschen.

Das typische düüüüüüüüdüüüüüüüdüdüdü doing-doing doing krschtschlkrschtschlkrschschschsch... war die Overtüre zu dem der digitale Vorhang zur Welt aufgezogen wurde. Dabei hatte der Vorgang zumeist noch etwas Besonderes nicht nur aufgrund des etwas umständlichen Aktes, sondern auch, weil es durchaus als zu bezahlendes Extra auf der Telefonrechnung wahrgenommen wurde. War das Surfverhalten anfangs dadurch gekennzeichnet, kurz "mal eben" ins Netz zu gehen, um Mails abzurufen oder eine Information den nächsten Urlaub oder die Öffnungszeiten des Einwohnermeldeamts betreffend zu finden, ist die Situation heute so, dass mit den Flatrates, die nicht selten als Paket für das Telefon und das Internet gekauft werden, das Einschalten des Rechners zumeist mit dem Online-Sein identisch ist. Den Rechner anschalten bedeutet, online sein und in nicht wenigen Studenten-WGs stehen Server, die rund um die Uhr ihren Dienst versehen und Filme saugen, Files zur Verfügung stellen, etc.

Damit hat der Mensch sich strukturell in Permanenz an die Welt angeschlossen und kann zu jedem Zeitpunkt mit jedem, ebenfalls an dieses Dauernetz angeschlossenen Person, Kontakt aufnehmen. Ein omnikommunikative Struktur, die sich immer dichter über die Welt legt, bis alle und alles total verfügbar ist.

Wie zentral dieser Wunsch und dieses Streben für den Menschen ist, wird u.a. auch daran ablesbar, dass die Verfügbarmachung von Internetanschlüssen und den entsprechenden Apparaturen neben der Versorgung mit Trinkwasser oder dem Zugang zu Bildung Teil der strategien der UN-Millenniumsentwicklungsziele ist.

War also die Entwicklung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dadurch gekennzeichnet, für Zugänge, Verfügbarkeit und Anschlüsse zu sorgen, ist im 21. Jahrhundert, da dies umgesetzt worden ist, die entscheidende Kompetenz über die der Mensch verfügen muss, Entkoppelung, Ausschließung, Reduktion.

Wenn strukturell ALLE Informationen dieser Welt verfügbar sind, ist die entscheidende Fähigkeit, die der Mensch braucht, um handlungsfähig zu bleiben, die Kompetenz, auswählen zu können, zu reduzieren und die Informationsbeschaffung auch abzubrechen, um sich nicht in einer endlosen Recherche zu verlieren und nicht in einer informatorisch-kontemplativen Handlungsabstinenz zu erstarren. Nicht zuletzt, um den Anforderungen der real physischen Existenz Rechnung zu tragen und nicht vor dem Bildschirm zu verwahrlosen, muss hin und wieder der PC ausgeschaltet werden, um im Primal Life einkaufen zu gehen. Sondern auch, um die in physischer Präsenz sich ereignenden sozialen Beziehungen zu aktualisieren. Wen will man anrufen, wenn man einen Umzug abwickeln will? Den Chatroom-Kumpel vom anderen Ende der Welt?

Als ein Beitrag zu einer solchen Entschleunigung 2.0 empfiehlt sich die Adresse www.alleinr.de
"Hier müssen Sie nichts tun. Sie melden sich nicht an, Sie laden nichts hoch, Sie kommentieren nicht, Sie knüpfen keine Kontakte. Niemand beobachtet, was Sie tun." Eine schwarze, stille Oase inmitten des chronischen Kommuniaktionsimperativs.

Und jetzt nochmal das Ganze, wie es bei Peter Sloterdijk klingen würde:

Meine sehr verehrte Damen und Herren, ich habe heute die Ehre zur Freischaltung des letzten fehlenden Internetzugangs in Deutschland eine kleine Geschichte der Kommunikationstechnologie aus philosophischer Sicht nachzeichnen. Schon allein aus Inkompetenz bitte ich Sie mir nachzusehen, dass ich weniger eine technologische Erzählung auf der Fährte von Patenten, Erfindungen und Entwicklungen wähle, als vielmehr einen evolutionspsychologischen Zugang, der, wie ich meine, viel eher geeignet ist, uns dem Geist der kommunikativen Expansion näher zu bringen.

Ich möchte meine im Folgenden darzulegende Diagnose, dass der Mensch spricht, weil er Angst hat, dass der Wunsch nach Kommunikation v.a. seine Ursache in einer existenziellen Angst vor dem Nichts seine Wurzeln hat und das Kommunikation in ihrem Wesen kombatant und die über Kommunikation sich organisierende Gemeinschaft im Kern militante Organisationen also Armeen sind, damit beginnen, dass ich die gesamte Geschichte als ein konvulsivisch sich immer neu formulierenden Wunsch nach prothetischer Omnipräsenz interpretiere.
Dem nicht-hier-sein wird durch allerlei Erfindungen (Eisenbahn, Telefon und allgemeiner: Sprache und Schrift also der außersubjektiven Verfügbarmachung innerpsychischer Vorgänge) und immer neue technischer Gadgets zu Leibe gerückt.


Die Ursache für diesen zwanghaften Trieb, den eigenen Wirkungsradius durch Prothesen zu erweitern, zu steigern und zu vervielfachen, liegt in der mangelhaften Grundausstattung, mit der der Mensch in die Natur entlassen ist. Allein seine Lernfähigkeit, seine Erfindungsgabe hilft ihm, sich gegen die feindliche Natur zu behaupten. Evolutinoär ist die Angst darin begründet, dass der prähistorische Mensch allein, ohne den Schutz der Herde, schnell zum Opfer wird. Daher will der Mensch immer wissen, dass da noch jemand ist und wenn er im dunklen Wald anfängt zu pfeifen, um nicht so allein zu sein. (Das moderne Äquivalent ist der Singlemensch, der wenn er nach Hause kommt, sofort den Fernseher oder das Radio anmacht, um die Stille der leeren Wohnung akustisch zuzukleistern.)

Schon am Anfang der Bekämpfung dieser existenziellen Angst steht die Erfindung, steht die Entwicklung von Gerätschaften und Apparaturen und damit die Genese eines die Dinge hinsichtlich ihres, jenseits ihres soseins liegenden Verwendungspotentials in Hinblick auf bestimmte Ziele (So wird ein Baumstamm zu einer Leiter, um Höhen zu überwinden, Blätter werden zu einem Dach, um regen abzuhalten usw.) umdeutenden Blicks.

So ist der Mensch v.a. der Homo Inventionis, der Erfinder, der Ingenieur und es ist gattungsgeschichtlich ganz entscheidend, dass die ersten Erfindungen Waffen sind. Die ersten Apparaturen zur Bekämpfung der Angst, Opfer zu werden, sind Waffen. So ist menschliche Verstandesleistung von Anfang an, an Kampf, Aggression und Angst gebunden. Ein Gedanke, der ihnen sicher bekannt erscheint und von Horkheimer und Adorno auf die Formel der Dialektik der Aufklärung gebracht worden ist: Die Entfesselung der Verstandeskräfte und aller aus ihnen folgenden Entwicklungen ist im Kern mit Gewalt und Militanz verbunden und bleibt gefährdet , in Barbarei umzuschlagen.

Das soziale Korrelat zu der Bekämpfung der Angst, unterzugehen, ist die Gemeinschaft, die organisierte Gemeinschaft mit anderen. Das Medium, über das diese sich formiert, ist die Kommunikation. Daher ist Kommunikation eng mit der evolutionären kombattanten Militanz des Menschen verbunden. Das ist ganz fundomentooool. Über Kommunikation formiert, aktualisiert und organisiert sich Gemeinschaft, die in ihrem Ursprung evolutionspsychologisch eine Wehrgemeinschaft und damit der Armee verwandt ist.

sprechen = schießen

Die Menschen schließen sich zur Herde als kombattante Notgemeinschaft zusammen, weil sie nur gemeinsam überleben können und sie entwickeln schnell die Prinzipien der Arbeitsteilung, um die Wehrhaftigkeit der Gruppe zu steigern: Die Stärksten werden Krieger und Jäger, während andere reproduktive oder die Basis sichernde Aufgaben übernehmen. So sind Arbeitsteilung und Militanz, Wirtschaften und Kriegführen ebenso eng verwandt, wie Kommunikation und Attacke, Sprechen und Schießen.

Wenn wir heute davon reden, dass jemand wie ein Maschinengewehr spreche, Worte wie Pfeile abschieße, jemand noch eben eine Mail abfeuere, finden wir diesen Zusammenhang abgebildet. Oder denken Sie an die Wirtschaftsbranche, die sich mit Kommunikation und dem vermitteln von Botschaften beschäfigt: PR und Werbung sprechen von Kampagnen, Werbefeldzügen, Kommunikationsoffensiven. Wenn ein Politiker sich kritischen Fragen stellen muss, heißt es nicht selten, dass er unter Beschuss stehe und bald fordern Stimmen, man möge ihn aus der Schusslinie nehmen.

So wie der Mensch sich also aus Angst vor dem Untergang zur Herde, Gruppe, Gemeinschaft, Staat zusammenschließt, die Gemeinschaft im Kern also eine kombattante Organisationsform und das Medium zur Organisation derselben Kommunikation in Gestalt von Sprache und Schrift ist, so sind die entwickelten Apparaturen zur Übermittlung von Kommunikation in ihrem Wesen Waffen nicht unähnlich. Denken die daran, dass die Entwicklung des Internet eine im Wesen militärische Innovation ist.

Aber das Bedürfnis nach Kommunikation liegt nicht allein darin begründet, sich mit anderen Menschen gegen äußere Bedrohung zusammenzuschließen, abzustimmen und zu verständigen. Die Angst des Menschen vor der Stille, dem Alleinsein ist die Angst vor dem Nichts, vor dem eigenen Verschwinden, der Möglichkeit, nicht (da) zu sein.

Diese Angst ist so zentral, dass der entfesselte technoreligiöse Veitstanz um das prothetische Kalb der Leerstellenvernichtungsmaschinerie (denn es geht darum jeden und alles immer und überall verfügbar zu machen, das nicht Vorhandensein anderer oder von einem selbst aufzuheben) als Kehrwert dieses Horror Vacui erkennbar wird. Das Streben nach einer auf Dauer gestellten Kommunikation hat das seine Ursache in der propriozeptiven Bedürftigkeit des Menschen. Der Mensch ist nicht in der Lage, sich an- und für-sich zu empfinden und zu erleben und bedarf daher immer der sinnlichen Erfahrung einer Begegnung, eines Kontakts, einer Berührung, um darin sich buchstäblich zu be-greifen.

Sicher kann der Mensch sich selbst berühren und dadurch einen Kontakt simulieren. Aber eine solche Simulation des Wirklichseins und Vorhandenseins bleibt doch immer hohl. Der Wunsch nach einer in Permanenz überführten Kommunikation ist der Wunsch nach einer permanenten Protkollierung und Beglaubigung des eigenen Vorhandenseins.

Wenn ich permanent existiere, ich permanent Gedanken und Gefühle habe, will ich dies auch mitteilen können, wie könnte ich mein Vorhandensein für mich glaubhaft machen, die neuropsychologischen Prozesse, die wir denken, erinnern oder vorstellen nennen, die mich einen ganzen Tag lang beschäftigt haben, wenn ich mich dabei niemand beobachten kann, wenn diese nicht dokumentiert werden?

Insofern sind wir mit dem Internet und der damit verbundenen technischen Infrastruktur bei der Verwirklichung einer potentiellen totalen Kommunikation angekommen. Die Berichte über die Masse an Zeit, die Menschen in Gestalt ihrer virtuellen Stellvertreter der Avatare in virtuellen Welten von den Sims, über Warcraft bis zum gehypten Second Life verbringen, zeigen uns, wie sehr die Virtualisierung der sozialen Verhältnisse einem Bedüfnis zu entsprechen scheint. Man kann scherzhaft sagen, dass das Second Life sich das Primal Life untergeordnet hat. Die pflegerischen Grundanforderungen der leiblichen Hülle werden nicht mehr bedient, um ein Fortkommen im Primal Life, sondern um einen maximierten Aufenthalt im Second Life zu organisieren und ermöglichen. Dies ist umso interessanter und vielversprechender, als das wir im virtuellen Raum den unverrückbaren Ausgangseigenschaften und unbeeinflussbaren Faktoren nicht so sehr runterworfen sind und also im Second Life erfolgreich sein können obwohl wir dick, unsportlich oder nicht hip sind. Während im Primal Life Erfolg entgegen der mediopolitischen Propaganda eben nicht (nur) von den eigenen Anstrengungen abhängt, bzw. eigene Leistung allein nicht notwendig Erfolg verspricht, ist die virtuelle Welt mit ihren kontrollierten Bedingungen objektiver und also gerechter.

Die totale Kommunikation über die virtuellen Wege der techno-protetischen Begegnungen im Chat, in der E-Mail oder in Foren usw. wird zumeist kulturkonservativ als hinter anderen, "höherwertigeren" Begegnungen unmittelbarer Natur zurückstehend abgewertet.
Dabei wird man bei genauerer Betrachtung zugestehen müssen, dass gerade in einer Zeit, in der wir nachhaltig gelernt haben, dass die auf Dauer gestellte direkte Kommunikation mit dem Namen "Ehe" oder "Familie" ganz häufig enttäuschend sein kann, oder in dem ganz normalen Terror der sich in den Kommunikationen von Ehepaaren abspielt und wie er z.B. von Loriot so unnachahmlich portraitiert worden ist, scheint das Internet mit seiner gleichzeitig von Intimintät, Intimtät auf der einen und Unverbindlichkeit auf der anderen Seite, die Verwirklichung dieses Wunsches nach totaler Kommunikation, ohne dabei dem Terror einer Totalüberwachung durch einen Menschen ins Messer zu laufen. Wir können jederzeit den Chatroom verlassen, eine E-Mail-Kommunikation auslaufen lassen oder gar abbrechen.

Die Möglichkeit zur Diskontinuität, die die virtuelle Kommunikation bietet, lässt sich im sozialen allein durch die Unverbindlichkeit freundschaftlicher und nicht auf Dauerpräsenz gestellter Beziehungen, der seriellen Partnerschaften mit "Lebensabschnittsbegleitern" realisieren. So sehr die Menschen ein Bedürfnis nach der Überwindung von Einsamkeit, dem Vernichten von Leerstellen und Stille haben, so sehr haben sie Angst vor Überwachung, Freiheitsentzug und Optionenreduktion.

Das ist ganz fundamentaaal.

Entscheidend für die gattungsgeschichtliche Weiterentwicklung wird die Frage sein, ob die der Kommunikation zu grundeliegende neurotische Angststörung in produktive kinetische Kräfte gewandelt werden kann oder in destruktive Apparaturen und Praktiken mündet. Dabei ringen Spammer und Virenautoren, Agenten proprietärer Monopolisten und Verfechter des Ideals der offenen Gesellschaft miteinander. Wir dürfen über den Ausgang gespannt sein.