Sonntag, Juni 08, 2008

Portugal : Türkei

"Die Dialoge sind wie immer bei Allen Motor der Handlung [...]"
Schnitt


Zugegeben: Es ist die ultimative Kulturpimmelei, am Abend des ersten Tags der Europameisterschaft ins Kino zu gehen, um sich den neuen Woody Allen anzuschauen. Um so ärgerlicher, wenn man läppisch abgefilmtes Schülertheater mit hözernen Dialogen serviert bekommt, gegen die Bert Brecht wie Screwball wirkt.


"Mit CASSANDRAS TRAUM beweist Woody Allen wieder einmal inszenatorisches Genie und schonungslose Beobachtungsgabe. Sein modernes Drama über den Umgang mit Schuld garantiert Hochspannung bis zur letzten Minute." Das erklärt der Filmverleih Constantin zu Woody Allens Film "Cassandra's Dream", dem Abschluss der "London Trilogie", von der schon jetzt behauptet werden darf, dass sie ähnlich brillant ist, wie Steven Soderberghs "Ocean"-Trilogie, so unterhaltsam wie ein eingeschlafener Fuß, so spritzig wie eine Rede von Horst Köhler und so geistreich wie das Buch von Oliver Kahn.
"Was ich damit sagen will:" (Franz-Josef Wagner) Dieser Woody Allen ist Müll auf Zelluloid.

"Man muss schon ein Gespür für die vielen Feinheiten haben, um diese Tragikomödie genießen zu können."
(Filmdienst)

Der Filmverleih Constantin hätte Allen einen Gefallen getan, dieses Opus Gaehnum (hihihihihihihihihihihihihigäääääähnhihihihihi) wie zunächst geplant NICHT in die Kinos zu bringen. Andererseits gibt es genug chronische Allen-Fans (alles, was über 40 ist, Cord-Jackets trägt, sich für nichts jenseits des aserbaidschanischen Frauenproblemfilms interessiert und daher die Woody-Allen-Geschmacksmonochromie mit Stil verwechselt), die essen, was auf dem Tisch steht und derart verstellt sind und "Dostojewski!" und "Griechische Tragödie!" rufen, wo man sich Homer Simpson wünscht, der mit seinem impulsiven "LANGWEILIG!"-Zwischenrufen noch jede Veranstaltung, vom Rockkonzert, der Predigt in der Kirche bis zu Marchs Belehrungen, dem gnadenlosen Maßstab des Unterhaltungswerts unterwirft.

"Bestechend, mit welcher Konsequenz sich das Drama entfaltet. [...] Die Story stürmt schnörkellos voran, und die brillant agierenden Darsteller erhalten Raum, die Figuren in all ihren Wirrnissen und Nacktheiten zu offenbaren" (Süddeutsche Zeitung)

Andererseits mag es genug Studienräte geben, die sich dem Imperativ unterwerfen, seit "Annie Hall" jeden Allen sehen und gut finden zu müssen, anstatt auch (hihihihi) dem (nudgenudgewinkwink) Stadtneurotiker mal einen schwachen Moment zuzugestehen.

Wie in dem Hägar-Comic, in dem der Wikinger Konfuzius begegnet und ihn auffordert mal "etwas Bedeutsames" zu sagen. Konfuzius lässt sich nicht lange bitten und erwidert "Ruhm ist wie ein müder Hund, der einem nur einmal zuwedelt." Darauf erwidert Hägar: "Das ist nicht besonders.", was Konfuzius achselzuckend kommentiert: "Es kann nicht alles großartig sein."

"Es geht um zwei Brüder (Ewan McGregor und Colin Farrell), die gemeinsam ein Boot kaufen (die „Cassandra's Dream“) und ihre Freundinnen darauf spazieren fahren; aber dann verliert einer der beiden beim Pokern sehr viel Geld (man sieht es nicht), und der andere lernt ein sehr anspruchsvolles Mädchen kennen (Hayley Atwell, eine braunhaarige Scarlett Johansson ohne den Scarlett-Johansson-Touch), so dass ein reicher Onkel (Tom Wilkinson) ihnen aushelfen muss. Der Onkel verlangt aber eine Gegenleistung: Die Brüder sollen für ihn einen Mann umbringen. Sie zögern, quälen sich und diskutieren, dann fassen sie sich ein Herz, danach diskutieren und quälen sie sich weiter, und am Schluss fahren sie wieder zusammen Boot. Dann ist der Film aus.
Das alles stimmt hinten und vorne nicht, schon weil gar nicht einzusehen ist, warum der Ire Farrell und der Schotte McGregor ein Londoner Brüderpaar spielen sollen. Aber es soll offenbar auch nicht stimmen, denn der Film sieht von Anfang an so aus, als wäre er nur ein Anlass für Woody Allen und seinen Kameramann Vilmos Zsigmond gewesen, sich mit ein paar tollen alten Sportwagen, einer Handvoll guter Schauspieler und einer Menge belangloser Dialoge eine schöne Zeit in England zu machen. Was ohne Zweifel geklappt hat. Aber man muss ihnen dabei nicht zuschauen. Jedenfalls nicht eineinhalb Stunden lang."
(FAZ)

In "Cassandras Dream" trifft deklamatorisches Schülertheater Senioren-Kurgastspiel und reizt die Leidensfähigkeit des Publikums weit über die Schmerzgrenze hinaus: "Ist er denn nicht gewillt zu schweigen?", "Ja, Bruder, ich fühle es auch."

Solche gespreizte Sätze sollen vielleicht eine Reminiszenz an griechisches Tragödientheater und also hochwertig sein - wenn aber das Eye Candy Hayley Atwell durch snobenglische Gartenlandschaft stakst und mit einem Schnösel ihre griechische Lieblingstragödien aufsagen ist das aber v.a. öde und platt.

Die mit Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen gefilmten Gesprächssequenzen sind so unerträglich geschnitten, dass man regelrecht den Einsatz des sich im Bildrahmen befindenden Darstellerpersonals betrachten kann, wodurch nicht nur Tempo und Authentizität auf der Strecke bleiben. Verstärkt wird der Eindruck des leblos Hölzernen durch ein akustisches Design, bei dem viele Umweltgeräusche fehlen und sich die muffig-didaktische Kammerspielatmosphäre versteckt. Allein Sally Hawkins Darstellung der lieb-dümmlichen Kate ist ein Lichtblick - und gibt eine Ahnung davon frei, was an darstellerischen Potential verschenkt wurde. Immerhin versprach der Trailer des neuen Mike Leigh films Happy-go-lucky noch mehr burschikos Tölpeliges von Sally Hawkins.
Das abrupte Ende ist derartig hingerotzt, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass Allen die Lust an dem Elend verließ. Besser ein Ende mit Schrecken ...

"Zwei Brüder in Geldnöten und ein Film, der auf der Stelle tritt. Der neue Allen ist der schlechteste seit langem. [...] Ein ziemlich witzloses Tauziehen der ewig gleichen Argumente, ohne Sieger."
Der Westen

"Woody Allens erneute Variation eines Schuld-und-Sühne-Motivs hat zwar nette Momente, ein paar erheiternde Einfälle und den wirklich hinreißend verhuschten Colin Farrell, dümpelt mit vielen Klischees, jedoch ohne wirkliche Spannungs-Höhepunkte vor sich hin wie ein Bötchen in einer lauen Brise. Man würde das Ganze als nette Unterhaltung, die ihr Potenzial verschenkt, hinnehmen, wenn Woody Allen den Schluss nicht so unmotiviert hingeklatscht hätte, als hätte ihn einfach die Lust verlassen." (RTL)

"Herausgekommen ist ein filmischer Tausendsassa, der stellenweise wie eine etwas zu hölzern geratene Modellinszenierung von Bertolt Brecht wirkt. Viel Moral und viel Klassenkampf, aber wenig überzeugende Dramaturgie und zu wenig Allen-typischer Humor." (Spiegel)

"Vielleicht liegt es an der deutschen Synchronisation, vielleicht liegt es auch an den unwirklichen Einstellungen von London und Brighton - jedenfalls erscheint "Cassandras Traum" eher wie ein Scherz als wie ein richtiger Film, oder aber, wie es der Titel nahe legt, wie ein seltsamer, schlechter Traum, der sich aber nach dem Aufwachen leicht abschütteln lässt. Die Beziehung der beiden Brüder zueinander lässt manchmal Raum für Andeutungen von Komik, aber die Anmaßungen der Figuren reichen nie an das Tragische heran. In der klassischen Poetik galt die Komödie als das Genre der unbedeutenden Menschen. Fast scheint es so, als hätte Woody Allen sich von dieser Definition inspirieren lassen, dann aber nicht weiter darüber nachgedacht, was denn an seiner Geschichte eigentlich erzählenswert ist." (Berliner Zeitung)

"Die womöglich altersmilde Satire auf family values jedoch entpuppt sich als galliges Moralstück: Mörder, so wird dem Publikum eingehämmert, überschreiten eine Grenze und müssen ihren Weg bis zum bitteren Ende gehen. Auf der Strecke bleiben: die hübsche Exposition, die durchweg sympathischen Nebenfiguren, das Woody Allen sonst eigene federnde Tempo, der ganze Film." (Tagesspiegel)

"In "Cassandras Traum" lernt der Zuschauer darüber hinaus eine ganz neue Seite des Meisterregisseurs kennen: seinen moralischen Zeigefinger. [...] Es wäre jedoch erträglicher gewesen, die Geschichte einfach zu erzählen, doch je mehr der Schluss naht, desto wuchtiger kommt die Moral daher. Was irgendwann nur auszuhalten ist, wenn man sich die nötige Distanz zu den Leinwandhelden schafft. Auch blöd." (Stern)

"Was am Ende bleibt, ist jedoch – wie so oft bei Woody Allen – das unheimliche Gefühl, als wäre nichts geschehen. Als wäre nur eine Geschichte aus einem Repertoire von vielen erzählt, nicht zuletzt, weil er sich den erhobenen Zeigefinger und die große Belehrung erspart – und die Gewißheit, daß er noch einige Geschichten bereithält." (Schnitt)

p.s. Körperliche Schmerzen bereitet auch der Trailer zu "So ist Paris": Krebskranker Eierhahn verwechselt Larmoyanz mit Poesie, Denken in Klischees mit Originalität. Als hätten Hera Lind und Paolo Coelho einen Stoff von Wolfgang Borchardt aufbereitet.