Sonntag, Februar 01, 2009

Unmündigkeit durch Selbständigkeit

Warum muss eigentlich heute ein Ingenieursstudium absolvieren, wer ins Internet oder einen Blu Ray Player kaufen möchte? Keinem Autofahrer wird zugemutet, sich mit den Finessen von Einspritzanlagen zu beschäftigen. Es genügt, wenn man kuppeln, bremsen und lenken kann, um zu fahren.

Wer hingegen auf dem Weg zur Aufrüstung des heimischen Filmwiedegabefuhrparks die Menge und die Komplexität der Informationen, aufgrund derer man hofft zu einem begründeten Urteil kommen zu können, verarbeitet hat, hat eine intellektuelle Leistung hinter sich gebracht, die in etwa der Ingenieurskompetenz eines NASA Astronauten aus den 80er Jahren entspricht.

HDMI (1.3), interlaced, progressive, 24p, True HD, DTS, DTS-HD undundund ... vielfältig sind die Abkürzungen - und die Möglichkeiten der Irreführung und Ahnungslosigkeit.

Die Beschriftungen in Unterhaltungselektroniksupermärkten wie auch die technischen Produktbeschreibungen im Internet sind wenig geeignet, eine Orientierung zu bieten:



Die Unübersichtlichkeit ist der Preis bzw. nicht intendierte Effekt einer grundsätzlich wünschens- und begrüßenswerten Entwicklung mit dem Ziel, dem Kunden selbst die Entscheidungshoheit in die Hand zu legen und ihn zu diesem Zwecke alle verfügbaren Informationen zu Produtken und deren Leistungen an die Hand zugeben, auf dass er sich sein Urteil selbst bilden möge.
Die Entwicklung zur Selbstbedienungsgesellschaft, die sich immer umfassedner durchsetzt (vom Online-Banking, den im Internet durchgeführten Ämtergängen, den vom Kunden selbst zu steuernden Auseinandersetzungen mit Computerautomaten in Telefonschleifen, u.v.a.) führt zu einer immer umfangreichenderen in Anspruchnahme des Einzelnen durchjedwede Entscheidung und Aktion, da immer mehr Aktivitäten und Entscheidungen die Selbstätigkeit und evtl. immer umfangreichere Recherchen voraussetzen.

So ist das Ergebnis des grundsätzlich lobenswerten Ansinnens, dass der Einzelne selber entscheiden möge (womit sich die Vorstellung der Flexibilität und Individualität verbindet) ironischerwesie, dass der Einzelne zu Stillstand verdammt ist: Wer allen ernstes versucht, die Flut an Informationen zu verarbeiten, kommt nicht mehr dazu, zu entscheiden und zu handeln.

Und mehr noch: Als nichtintendierter Effekt produziert diese Kultur der Selbständigkeit das genaue Gegenteil. Da der Einzelne die Flut an Informationen verschiedenster Themenbereiche nicht verarbeiten, verstehen, interpretieren und aufgrund dieser Informationen zu einem selbstbestimmten Urteil kommen kann, ist man dazu verurteilt, sich letztlich in die Hand halbinformierter Berater, Fachmagazine und Empfehlungsnetzwerke zu begeben.

Während in früheren Tagen die Strukturen zur Entscheidungsfindung jedoch auf nachbarschaftlichen Beziehungen beruhten - man ging eben in der Nachbarschaft, zu "seinem" Elektronfachmarkt - und durch die dauerhafte, permanente Beziehung eine gewisse Gewähr der ehrlichen Beratungsbemühungen gegeben war (denn, wenn der Fernseher nichts taugte, konnte man jederzeit zu "seinem" Markt gehen. Dem Berater war also durch seine Bindung an einen lokalen Markt an der Zufriedenheit "seiner" Kunden gelegen - da schlechte Leistung einen schlechten Ruf und also einen sich verlagernden Markt zur Folge hätte), ist in der anonymisierten Vergrößerung der Mediengroßsupermärkte der niedrige Preis vieler Produkte durch die weniger belastbare

So produziert das Zeitalter der Selbständigkeit immer mehr anonyme Abhängigkeiten.
Ein Vorgang, den Ulrich Beck als einen Effekt der immer nur halb als Zugewinn an Freiheiten verstandenen "Individualisierung", die nicht zuletzt auch neue Abhängigkeiten produziert: Wenn man aus ehemals bindenden Gefügen wie Familie, Geschlechtsrollenbildern, Kirche, Gewerkschaft, Vereinen usw. gelöst wird, bedeutet dies wohl einen Zugewinn an Freiheit aber auch einen Verlust an Orientierungshilfen, die diese Strukturen boten, die dem Einzelnen eben auch viele Entscheidungen abnahmen, Vorstrukturierungen vornahmen und die Interessen des Einzelnen, der eben nicht atomisiertes Partikel, sondern "Mitglied" und damit mit bestimmten Rechten versehen war und auf die parteiliche Anwaltschaft bestimmter Gruppenorgane zählen konnte.

Ulrich Beck beschreibt, dass die Freisetzung aus den ehemals bindenden Zusammenhängen und Gruppen dazu führen, dass jeder Einzelne unvermittelt - also ohne Mittlerschaft schützender und unterstützender Zugehörigkeiten - mit Strukturen konfrontiert ist, die man nicht zur Gänze verstehen, kontrollieren oder beeinflussen kann. So produziert Individualisierung und der Zugewinn an Freiheit auch einen Handlungsdruck beim Individuum, das sich in einen permanenten Entscheidungszwang und Großvorgängen, die es nicht überblicken kann, gestellt sieht.

Eine Entwicklung, die Sebastian Haffner schon früh als "sinkenden Lebensstandard" beschrieben hat: Das Zugänglichmachen von Vorteilen für jeden Einzelnen führt letztlich dazu, dass diese Vorteile sich ins Gegenteil verkehren. Wenn jeder in den Genuss eines Autos kommt und Individualverkehr praktizieren will ist der Verkehrskollaps mit Stillstand und Smog das Ergebnis. Und in der sogenannten "Dienstleistungsgesellschaft" dient niemand mehr, sondern es ist der Kunde, der alles selber machen muss. (Bild: quentinh)