Dienstag, Januar 12, 2010

Lust am Chaos als Selbstvergewisserung [update 14.01]

In der Süddeutschen macht Thomas Steinfeld einige kluge Bemerkungen zu der Hysterie rund um "Daisy". Bei dem Sturm falle v.a. der fast lustvoll gesuchte Thrill auf, der in den Ankündigungen und einer farbenfroh ein bevorstehendes Chaos ausmalenden Berichterstattung seinen Niederschlag fand. Wie bei allen Meldungen zu Unglücken und Notfällen orientierten sich die Beiträge rund um den vorhergesagte Schneesturm an Spitzenwerten. Wieviele Menschen sitzen in ihren Häusern fest? 50? 100? 400?

Im Wettbewerb, um den Gipfel in dem Gebirgszug an gleichlautenden Meldungen greifen die Medien gerne zu Kniffen wie dem Verweis auf Schätzungen oder Vermutungen, zu deren Beleg unterschiedliche Experten oder Behördenvertreter herangezogen werden: "Experten schätzen, dass bis zu xyz betroffen sind." "Schätzungen gehen bis zu xyz."

Solange es keine Katastrophen zu berichten waren, werden Befürchtungen als Orientierungspunkt genommen. Diese stellen zwar einen wahrheitsgetreuen Bericht darüber dar, dass bislang nichts passiert sei, halten aber die Tür zur Gänsehaut verursachenden Vorstellungen, dass dies noch nichts heißt, offen: "Bislang blieb das befürchtete Schneechaos aus..." Oder man berichtet die Fakten, um sie mit der Perspektive einer Spekulation hochzujazzen: "Bislang wurden 10 Opfer geborgen. Befürchtungen sprechen aber von bis zu 10000000 Millionen Toten."

Solange es nichts zu berichten gibt, genügt ein Fragezeichen

100, 1000? Wer bietet mehr?

Signalwörter: Gewaltige Schäden. Jahrhundertbeben. 200 Jahre. Tausende. Hunderte. Deutsche.

The Horror. The Horror: In allen Schlagzeilen ist von tausenden befürchteten Opfern die Rede. In den Sublines sind es merkwürdigerweise nur noch hunderte.

Es gibt scheinbar ein Bedürfnis nach Angst und die Faszination, nach Schock und Schrecken, die einem durch Mark und Bein fahren und dem abstrakten Konstrukt "Gesellschaft" so zu einer gesteigerten Gegenwart verhelfen. Wenn dem Sozialkörper vor Angst die Knie klappern und er in Schwingung gerät, erfährt er sich selbst, vergewissert sich seines Vorhandenseins. Thomas Steinfeld schreibt:

"[...] bei einem solche Alarm geht es bei weitem nicht nur darum, vor etwas Schrecklichem zu warnen. Die allgemeine Warnung selber, die Nachricht, die an den Lebensnerv eines Kollektivs rührt, hat ihre eigenen Effekte: die "gesteigerte Geistesgegenwart" (Walter Benjamin), das plötzliche Bewusstsein, dass da etwas ist, was uns alle unbedingt angeht - nicht, weil man Gemeinschaft empfinden will, sondern weil da etwas Höheres, Unwidersprechliches in die Menschen fährt wie ein Faustschlag in die Magengrube, eine Macht, die das Leben von Millionen polt und sie so nicht nur zu einer Gemeinschaft macht, sondern der Gemeinschaft eine Gegenwart, ein praktisches Dasein verleiht." (SZ)


Zusammegeschweißt zur Schicksalsgemeinschaft:
The Day after Tomorrow

In der Tat. Angstsituationen sind Momente gesteigerter Aufmerksamkeit und Reizbarkeit. Körper und Geist haben eine gesteigerte Empfindsamkeit für Gefahren, die Pupillen sind geweitet, ausgeschüttetes Adrenalin beschleunigt die Leistungsfähigkeit der Muskeln, neuronale Impulse werden schneller Übertragen. Der Mensch macht sich bereit. Für Flucht. Für Verteidigung. Kampf. Für einen Aufprall. Für Schaden. Und nimmt sich und seine Umwelt in dieser Haltung verstärkt und gesteigert war. Ein Gefühl, das nicht nur unangenehm ist und auf eine Gesellschaft übertragen scheinbar den Charakter eines globalsozialen Probealarms und kommunikativen Leistungstests hat.

Je größer die Katastrophe, desto enger rückt man zusammen:
"The Day after Tomorrow"

Peter Sloterdijk geht in so weit zu behaupten, dass diese Fähigkeit, sich selbst unter Stress zu setzen und den Sozialkörper in Schwingung zu versetzen, für "Nationen" lebenswichtig sei. In einer vom Individuum als real erlebten und es mit dem Ganzen der Gesellschaft oder der Nation verbindenen Panik verlieren "Gesellschaft" oder "Nation" ihren Abstraktionsgrad und werden real gefühlt.

"Man könnte [...] auch von einer autogenen Stress-Plastik sprechen, denn in der Tat kann die moderne Nation Realität nur in eben dem Ausmaß besitzen, wie es ihr gelingt, sich selbst unter den Druck, zu sein, zu setzen. Die Nation ist also [...] ein durch und durch hysteroides Gebilde. Sie muss sich selbst moralisch die Sporen geben, um nach vorn zu kommen, und sie muss sich öffentlich produzieren und auführen, um an sich selbst zu glauben.
Ihre reale Existenz hängt von invasiven und infektiösen autoplastischen Kommunikationen ab, die den Zwang, zu sein und eine Rolle zu spielen über eine ganze Population verhängen. Diese Kommunikationen spielen sich zunächst vor allem schriftlich ab, weswegen Nationen stets ein Mindestmaß an orthographischem Drill verlangen.
Und da die literarischen Klassiker mit dieser Aufgabe von Anfang an überfordert waren, mussten [...] gröbere Medien, direktere Medien, neue Medien sich in den Vordergrund schieben, Medien, die sich ganz der Aufgabe widmeten, die informierte Nation durch thematischen Dauerstress im Dasein zu halten.
Die Nation ist ein hysterisches und panisches Informationssystem, das ständig sich selbst erregen, sich selbst stressieren, ja sogar sich selbst terrorisieren und in Panik versetzen muss, um sich selbst zu beeindrucken und um sich, als in sich selber schwingende Stress-gemeinschaft, davon zu überzeugen, dass es sie wirklich gibt.
[...] Moderne Nationen sind Erregungs-Gemeinschaften, die sich durch telekommunikativ, zuerst mehr schriftlich dann audiovisuell erzeugten Synchron-Stress in Form halten." (Peter Sloterdijk: Der starke Grund zusammen zu sein. Frankfurt a.M. 1998. S.41f)