Sonntag, Mai 04, 2008

Das Design bestimmt das Bewusstsein

Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" ist ein sagenhafter Verkaufserfolg und wird quer durch alle Medien als offensiver Gegenentwurf zu der geleckten Ästhetik einer aseptischen Pornographie gefeiert, die schmutzig und verrucht daherkommt und dabei immer schon von den industriellen Leistungsdispositiven durchzogen ist, zu denen sie die Alternative zu sein vorgeben.

In der Welt sieht der ehemalige Chefredakteur der deutschen "Vanity Fair" Ulf Porschardt das erwartungsgemäß anders. Für den Experten der Oberfläche ist der Erfolg des Buchs und die Bereitwilligkeit, mit der die darin präsentierten Thesen aufgenommen werden, symptomatisch für Deutschland:

"Ein Buch, dessen Heldin ihre Hämorridenprobleme und die eigene körperliche Unvollkommenheit lustvoll preist, passt gut in das kulturelle und ästhetische Selbstverständnis der Deutschen. [...] Die Sehnsucht nach dem Ausstieg aus dem, was weniger philosophisch formuliert als „Schönheitsterror“ bekämpft wird, hat in Deutschland besonders viele Freunde. [...] Der Wille zur Form wird mit Unwillen zur Substanz verwechselt und dabei abgewertet. Diese Abwertung geht oft einher mit einer Ignoranz und Respektlosigkeit gegenüber dem Formvollendeten. [...] Die Vorstellung des Schönheitsterrors ist selbst eine reaktionäre Vorstellung. Wer sich von Schönheit terrorisiert fühlt, muss ein unglücklicher Tropf sein.Wer glaubt, dass es eine Diktatur der Schönheitsideologen gibt, muss – insbesondere in Deutschland – ein Fantast sein."

Porschardt diagnostiziert in Deutschland einen tradierten Hass auf die Schönheit, Argwohn gegenüber Individualität, Geringschätzung gegenüber Leistung. Wir seien das Land von Mario Barth und Kurt Beck; mentale Laubenkoloniebewohner, Kegelbrüder und -schwestern und projizieren unseren nationalen Selbsthass, die großgesellschaftliche Sorge, nur Durchschnitt zu sein (obwohl wir uns für die Größten halten) als Zwang zur Gleichmacherei.

Bloß nicht anders sein. Der Deutsche möchte sich zwar mit Idolen und ihren außerordentlichen Attributen und Leistungen identifizieren - die Idole sollen aber nicht derart der eigenen Wirklich entstiegen sein und diese negieren, dass man sich in seinem Bausparvertragsleben zu klein fühlt.

Diese Schizophrenie spiegelt sich u.a. in dem Stolz auf herausragende Köpfe und Leistungen, die sich nationalisieren und vergesellschaften lassen, die andererseits mit Kleinmacherei einhergeht. Einerseits sind wir stolz, wenn eine/r von von uns "es" draußen in der Welt zu was gebracht hat. Wir wollen im Erfolg der Herausragenden uns selbst als herausragend erleben. Schwarz, rot, geil! Aber die Helden sollen bitte nicht sooo herausragend sein, so intelligent, schön, leistungsstark, dass wir uns im Spiegelbild als doof, hässlich und lahm erleben.

Outet sich ein solcher Legionär als mentalitätsgeschichtlicher Separatist, der partout nicht in die Mikrophone diktieren will, dass er/sie gaaaanz natürlich geblieben ist, zu Hause am liebsten in Jeans rumläuft, nichts auf Schminke gibt und eigentlich gaaanz normal ist (sondern eben wie König Karl Lagerfeld sich komplett durchinszeniert und die Unerträglichkeit des Durchschnitts für sich und alle anderen proklamiert), wird er wahlweise als Kuriositätenerscheinung gelabelt (Lagerfeld oder Kinski), dadurch seiner subversiven Energie benommen und durch die Talkshows gereicht, durch die Mangel gedreht ("Lemper"n nennt man das), oder es wird ihm/ihr ein anderer Leistungsdarsteller, der mehr dem kleine-Brötchen-backen-Konzept entspricht, als eigentlicher Volksheld entgegengestellt:

Oben im Bild: Ein deutscher Politiker, der auf seine Provinzialität hält, seine Ödnis zur Kompetenz umwertet und auch als stellvertretender Abteilungsleiter einer Versicherungsfiliale durchginge. Unten im Bild: Ein US-amerikanischer Politiker (Photo:Larry Fink/VF).


In Deutschland mag man die Helden aus der Provinz. Jürgen Klinsmann, weil er erfolgreich ist, aber noch mehr, weil er eine Bäckerlehre absolviert hat, seine Eltern immer noch Brötchen verkaufen und er unüberhörbar schwäbelt, also bei aller Internationalität und Management-Sprache uns im beruhigenden Sound der Provinz entgegentritt. Den handwerklich-logistisch überzeugenden Schwaben Roland Emmerich lieber als den urbanen Maniac Rainer-Werner Fassbinder, den tapfer-fleißig stets aufs neue scheiternden Hans Hubert Vogts lieber als den sich auf dem Schweizer Finanzparkett tummelnden Netzer.

Held der deutschen Kleingärtner: Herr Schumacher aus Kerpen macht Werbung für Autoersatzteile, die damit werben, ganz bestimmt nicht exklusiv zu sein ...

...und für Sprudelwasser.

Ein Helmut Schmidt wird wegen seiner Weltläufigkeit ("Giscard und ich"), seiner Eigensinnigkeit bewundert und als Vorzeigekopf geschätzt - sieht sich aber einer Klage seines notorischen Rauchens wegen ausgesetzt, die vom Lautsprecher der Kleingeister eifrig ventiliert wird.

Wir wollen gleichzeitig groß und einzig sein, haben aber Angst, dass wir diesem Wunsch und Anspruch vielleicht nicht entsprechen könnten und vergesellschaften uns daher lieber im Mittelmaß, so Porschardts Diagnose.

Dies äußert sich eben auch in dem Kult der "Natürlichkeit", die in der deutschen Lesart ein anderer Begriff für Ungepflegtheit ist. Wer sich in Deutschland keinem Argwohn aussetzen will, muss glaubhaft darstellen, dass - sollte er/sie zufällig attraktiv oder erfolgreich sein - dies als unverdiente Gnade erlebe (keineswegs aber als verdienten Lohn eigener Anstrengung im Sinne Max Stirners: "Mir geht nichts über mich!").

Die Deutschen mögen Heidi Klum, Claudia Schiffer oder Michael Schumacher, die mit Deutschlandscherpe zur Ziehung von Fußballländerspielpaarungen antreten, unverdächtige Volksprodukte wie Birkenstocks, Katjes oder Dekra-Versicherung bewerben oder sich in Bergisch Gladbach auf den Karnevalswagen stellen und sich in der ADAC Motorwelt abbilden lassen, weil sie ein Biedermeier-Kosmopolitentum repräsentieren, dass gleichzeitig den Kleinbürgerwunsch nach "dazugehören" bedient und das beruhigende Signal sendet "ich bin wie Du".

Umgekehrt wird der "Wille zur Form [...] mit Unwillen zur Substanz verwechselt und dabei abgewertet.", so Porschardt.

Wir pflegen den Kult des Mittelmaßes, um dem Risiko des Scheiterns bei dem Versuch dem Ideal des Außergewöhnlichen in unserem Leben angemessen umzusetzen zu entgehen. Denn das würde bedeuten, die Gefahr einer tiefen narzistischen Kränkung einzugehen, würde man versuchen einem solchen Ideal nachzueifern - und zu scheitern (Wie sollte man mit dem Gefühl leben, besser sein zu wollen, als man ist/werden kann?). Also wird der Sprung nicht versucht. Womit aber der Wunsch nach dem Außergewöhnlichen nicht verschwindet.

So wählen wir also Merkel, Beck und Bütikhofer und schielen doch nach Sarkozy und Berlusconi, an denen - abgesehen von ihrem politischen Programm - v.a. der völlig offene Wille, sie selbst zu sein, den bescheiden grauen deutschen Michel irritieren. (Oder, um ein anderes, politisch nicht so kontaminiertes Beispiel zu nehmen: An Barack Obama begeistert v.a. sein Stil, seine groovende Lässigkeit, neben der sich Hillary Clintons Auftreten wie ein Hausmütterchen ausnimmt. Unter ästhetischen Gesichtspunkten stellt sich bei den Kandidanten die Frage, was die Amerikaner wählen werden: Jemanden, der ihnen repräsentiert, wie sie sein wollen/können oder jemanden, der ihnen darstellt, wie sie sind.)

Design, Schönheit und die Anstrengung zur Form haben EBEN NICHT etwas mit Oberflächlichkeit zu tun, sondern sind die Disziplinen in denen das Ringen um die angemessene die Herstellung und Einforderung einer unverwechselbaren Individualität und deren Repräsentation in einer geordneten Haltung und Anordnung an der Oberfläche verhandelt werden und als visuelles Statement sich selbst (und der Umwelt gegenüber) artikuliert und angemahnt werden. Der Wille zur Schönheit ist der Wille zum Selbstsein. Ein Land, dass Ästhetik derartig geringschätzt, gehört auf die Couch.

Der ganze Artikel "Germany's next Elke Heidenreich" in der Welt

p.s. Auch ein lustiger Spaß ist, wie Lady "Bitch" Ray Porschardt ein Glas Wasser ins Gesicht eiert.