Wenn man nach dem Amoklauf von Winnenden auf die Dramaturgie öffentlich-medial vermittelter Verarbeitung blickt, fällt einem der Widerspruch zwischen der Behauptung vom "Schock" und dem "Unbegreiflichen" auf der einen Seite und der routiniert produzierten (und ebenso routiniert konsumierten) Kommunikations-Folklore auf der anderen Seite auf. Braucht die durchrationalisierte Informationsgesellschaft den kontinuierlichen Strom bekannter Bilder, Meldungen und Äußerungen, um dem gänzlich Unfassbaren durch Überbelichtung und Überkommunikation seinen Schrecken zu nehmen?
"Die Flut von Stellungnahmen und Vorschlägen, die nach schrecklichen Ereignissen zuverlässig einsetzt, ist aber noch am ehesten zu verstehen als ein Ritual der Informationsgesellschaft. [...] Ähnlich wie in den ritualisierten Klagen ergeben auch diese sich stets wiederholenden Äußerungen im Grunde keinen inhaltlichen Sinn: Nichts davon wäre geeignet, eine Tat wie die von Winnenden zu verhindern. Vieles ließe sich in einer freien Gesellschaft nicht einmal wirklich durchsetzen. [...] Aber sie bedienen eben ein Bedürfnis der Medien nach Material, das nach einem emotionalen Schock wie diesem Amoklauf groß ist.
Die vorhersehbaren Wortmeldungen erhalten die Illusion aufrecht, dass die Gesellschaft einer solchen Tat gewachsen ist und angemessen auf sie reagieren kann. Sie haben daher auch eine tröstende Funktion. Das Geschnatter im Internet, ein Gemisch aus Wahrem, Halbwahrem und Falschmeldungen, erfüllt dieselbe Aufgabe.
Denn eines kann die Infogesellschaft auch nach einer unfassbaren Tat wie dieser niemals tun: schweigen." (FTD/reticon)