In Balin (wo den sons,wa?!) findet gerade das "9 to 5"-Festival statt. Initiiert wurde es von Holm Friebe und Sascha Lobo, den Autoren von "Wir nennen es Arbeit" und Namensgebern des besonders in Berlin anzutreffenden Phänomens der "digitalen Boheme".
Unter digitaler Bohème verstehen Lobo und Friebe die besonders in Berlin anzutreffende Spezies kreativer Selbständiger, die anstatt nach normalbiographischem Verlauf von Schule, Ausbildung oder Studium in den sicheren Hafen einer Festanstellung einzulaufen, lieber Projekte" betreiben (wobei dies nicht nur eine Lustentscheidung, sondern auch die Reaktion auf eine Entwicklung sei, an deren Ende die Sicherheit der Festanstellung vorbei sei bzw. mit Blick auf die Zwänge die vermeintliche Sicherheit eine Fiktion darstelle, bei der die individualpsychologischen Kosten bei weitem den Gewinn übersteigen) , in deren Zentrum auf die ein oder andere Weise das Internet steht, bzw. bei deren Tätigkeit das Internet die zentrale Infrastruktur darstellt.
Typisch für die von Mercedes Bunz als "Urbane Penner" apostrophierten, jenseits der Festanstellung agierenden iBook-PopkulturistInnen, ist die Konvergenz von Lebens- und Arbeitsform, wie sie beim 9to5-Festival praktiziert wird. Man lebt, feiert, bloggt, netzwerkt ohne genau wissen zu wollen, wo der Spaß aufhört und (ob) das Geldverdienen anfängt.
Dass diese Strömung nur die Entwicklung innerhalb eines ganz speziellen Mileus, einer speziellen Schicht, bzw. Population mit besonderen Merkmalsausprägungen (hochschulreife, hochschulerfahren - wenn schon kein Abschluss - internet-affin, popkulturell beschlagen und sich in immer neuen Volten sublimster Geschmacksurteile gegenseitig voraus sein wollend: Quiet is the New Loud, White is the new Black, Spießig is the new Punk usw.) darstellt, fällt dabei häufig unter den Tisch.
Die Superberliner
Das es neben den postadoleszenten, mit mehr oder weniger Erfolg ihre Smalltalkkompetenzen mit je nach Studiumserfahrung und persönlicher Neigung unterschiedlichem Schwerpunkt gepimpten Popkulturtheorien und geschirachten Sextalk operierenden Spätausziehern, Langvondenelternlebern und Berlingutfindern mindestens genausoviele zwischen 20 bis 38jährige gibt, die nach Lehre und Abschluss als Fliesenleger, Schreinermeister, Bürokauffrau, Krankenschwester arbeiten und zu einem Zeitpunkt schon Haus und Kinder verwalten, da die Digitalneurotiker immer noch an einem kommunikativ-emotional-sozialen Konzept arbeiten, dass die Ethik der Monogamie mit dem Partyspaß der Vielknutscherei vereint und blenden dabei die Tatsache aus, dass am Anfang aller menschlichen Interaktion Grundlagen der Körperpflege stehen.
Überhaupt wird interessant sein zu beobachten, was aus dem BECK'S-H&M-Lifestyle wird, wenn Generationen von landflüchtigen Individualisten durch Berlin durchgerauscht sind und alle Blogger, Popliteraten, Jungredakteure geUslart und casatit und in den Redaktionen von Spiegel-Online, SZ-Magazin, im Bett von Schirrmacher oder im Parkett von Bayreuth angekommen sind und den affirmativ-öden Stumpfsinn von Pitches, Budgets, Claims und allem anderen PR-Dünnpfiff immer noch mit dem coolen Gestus des Wissensvorsprungs als smart behaupten und doch einfach nur die Fortsetzung des Bausparvertrags mit anderen Mitteln betreiben.
Anyhoo. z.Z. entsprechen die Protagonisten und ein bestimmtes Publikum (v.a. in den deren Exsitenz medial verstärkenden Redaktionen) einander recht passgenau und so ist es ja auch schön, wenn junge Leute nette Dinge tun, einander fotografieren z.B.
Die Berliner Zeitung schreibt über das Festival
"Bekannte treffen in großer Zahl aufeinander, obwohl Holm Friebe nachdrücklich dementiert, einer der "Superberliner" zu sein, was ihm eine süddeutsche Zeitung jüngst unterstellte. Allerdings sind, von Rainald Goetz abgesehen, fast alle anderen "Superberliner" auch da, etwa Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig, Journalistin Mercedes Bunz, Holms jüngerer Bruder Jens Friebe, seines Zeichens Musiker, und auch Pop-Literat Joachim Lottmann, der realitätsfern aus dem Radialsystem in seinen Blog schreibt, es drängten sich tausende Besucher. Eine Folge der ungewohnten Arbeitszeit?"
Der ganze Artikel Länger leben ohne Chef in der Online-Ausgabe der Berliner Zeitung
Die Webseite zum Festival: www.9to5.wirnennenesarbeit.de
Digitale Boheme? Oder digitales Lumpenproletariat?
Eine recht klare und unaufgeregte Analyse der ganzen Veranstaltung und des Konzepts "digitale Boheme" als Behauptung liefert Kolja Mensing im Deutschlandfunk (ab der 2. Hälfte).
Mensing kritisiert, dass die Projektion des subjektiven Wohlbefinden der 30something-High-Tech-Freiberufler in Berlin-Mitte als gesamtgesellschaftlicher Entwurf und Antwort auf die globalgesamtgesellschaftliche Krise der Arbeitsgesellschaft nicht funktioniert.
Die Parole, dass ein jeder Dank des Internet Unternehmer werden könne, es brauche nur eine kreative Idee, blendet aus, dass eben nicht jeder kreative Ideen ausspuckt und Agenturen gründen, Ausstellungen organisieren, Plattenlabel aufziehen, Förderanträge stellen, Flyer drucken usw. kann. Der Titel eines in diesem Zusammenhang entscheidenden Buches von Richard Florida spricht darum auch vom Aufstieg der kreativen Klasse - und was ist mit den unkreativen Beamtencharakteren?
Die Rezension von "Wir nennen es Arbeit" von Kolja Mensing bei DeutschlandradioKultur
Kolja Mensing im Internet unter www.deadletters.de