Freitag, Juni 22, 2012

Treffer-Kult und primärsadistischer Jubel

Zur Fußball EM der Mehmet Scholl der Philosophie, Peter Sloterdijk. Zitat aus "Der starke Grund zusammen zu sein" (1998)
"Wenn oben gesagt wurde, alle Geschichte sei die der Gewaltlösungen, so wäre jetzt hinzuzufügen: Sie ist die Geschichte des Davonkommens aus Verfolgungen und die Geschichte des Übergehenkönnens von der Flucht in den Gegenangriff. Man könnte geradezu von der Geburt des Menschen aus dem Geist des Gegenangriffs sprechen. Am Anfang war die Gegengewalt - das heißt die Gewaltflucht, die durch Würfe Grenzen in den Raum zieht.

Das Distanztier Horden-Mensch lebt auf einer Insel von Umweltabstand, die durch das Integral von Flucht und Gegenangriff aus der Alten Natur ausgegrenzt wird. Daher läge es nahe, die alten Horden mitsamt ihren hochkulturellen Nachfolgern in Völkern und Nationen als soziale Flöße zu verstehen, die auf dem Meer der Alten Natur driften, mit der erst spät verdeutlichten Tendenz, die zeitlose Drift in historische Fahrt zu überführen.

Nun wird verständlich, warum die gesamte Paläohistorie Variationen über die Motive Werfen und Schießen bieten muß. Tatsächlich ist der Mensch, soweit er sich im Gegenangriff selbst erfunden hat, ein artilleristisches Tier - Werfer, Schütze, Distanzerzeuger mit den Mitteln des Geschosses und der geworfenen Grenzsteine. Wenn wir bedenken, daß die ersten »Grenzen« nicht gezogen oder gesetzt, sondern geworfen wurden (um danach als Niemandsländer zwischen den Werfern leer zu bleiben), dann wird die archaische Suggestivkraft von Schußwaffen im allgemeinen und der Feuergefechte im Aktions-Kino im besonderen sehr plausibel.

Der Aktions-Historismus erinnert daran, daß das Horden-Ego überall dort zu Distanz- und Abgrenzungskämpfen Anlaß findet, wo die alten Akteure auf ihren Ausflügen aufeinanderstoßen. Wer bei schweifenden Fahrten auf andere schießt, ist nicht immer nur der coole Killer oder der lonely Cowboy; er könnte ebensogut ein alter Jäger sein, der Horden-Außenpolitik macht - nicht in territorialen Begriffen, sondern in Vorstellungen einer so imaginären wie realen Intaktheit des Horden-Egos, das in seinen innerlich relativ befriedeten informellen Revieren durch den gewalterfüllten Weltkessel driftet.

Daher gibt uns der Rückblick auf die Hominisation in der Horde Gelegenheit, über jene Artillerie vor der Artillerie nachzudenken, die von der Menschwerdung insgesamt untrennbar scheint. .... Hätte Heidegger die »Terminator«-Filme noch sehen können, so hätte er, dessen bin ich sicher, nicht länger behauptet, daß der Mensch dasjenige Seiende ist, das sich selbst zu entwerfen hat, sondern dasjenige, das schlechthin zum Werfen verdammt ist.

Wer vom Werfen reden will, darf vom Treffen nicht schweigen. So nähern wir uns jetzt der dunklen Seite dieser Überlegungen, denn es muß von der Beziehung der Schützen und Werfer zu den getroffenen Objekten die Rede sein, wobei ich die Erwägung vorausschicke, es könne sich hierbei um den Prototypus dessen handeln, was man neuzeidich eine Subjekt-Objekt-Beziehung nennt. Mit der Frage nach dem Treffen ist das Terminator-Motiv zum ersten Mal angerührt, denn die Treffer, von denen die älteste Jägerfolklore ebenso wie die neueste Killer-Automaten-Phantasie lebt, sind eben die terminalen, die terminierenden, die Voll-Treffer, die Schlußpunkte hinter das autonome Dasein des Objekts setzen.

Die Objektbeziehungen der Schützen sind von einer Art, die man als glücklichen Sadismus charakterisieren könnte. Auf ein Objekt schießen heißt nicht nur, es aus dem Weg schaffen oder von den Füßen bringen wollen: Ein »wahrer« Schuß erkennt im Anderen ein Etwas, das sich dort aufhält, wo besser ein Nichts wäre, und ist daher, wenn er zum Volltreffer führt, die »Herstellung« dieses genauen Nichts an der Stelle des falschen bisherigen Etwas.

In solcher Sicht wäre jeder Art von Artillerie ein latentes Terminator-Motiv inhärent. Wo immer im Ernst geschossen wird, wird das Nichts eingeladen, mit dem bisherigen Etwas Platz zu tauschen. Der Kult des Treffers, der durch alle action-Filme geht, ist eine immerwährende Auslöschungszeremonie, die das ursprüngliche Vernichtungswunder der Horden-Menschheit nachfeiert, als wäre es etwas, worauf auch der heutige Sapiens-iactans nicht verzichten kann.

Wenn ich den Ausdruck »Vernichtungswunder« gebraucht habe, ohne von der Formulierung sofort moralisch abzurücken, dann geschah das nicht in der Absicht, eine schwarze Messe theoretisch vorzubereiten, sondern um ein paläoanthropologisches Theorem über die primären Machterfahrungen unserer Horden-Menschheitsgeschwister plausibel zu machen. Denn in der Ich-Bildungsgeschichte der Gattung sind Vernichtungen älter als Schöpfungen, und das Auslöschen ist grundlegender als das Erfinden.

Terminieren geht über Inaugurieren - wieso? Die Antwort ergibt sich aus den Grundgegebenheiten der Hordenwirklichkeit. Die Gruppe driftet - umgeben von der unsichtbaren Eihaut ihrer Naturdistanz - auf dem alten Naturmeer dahin, ein ... Floß in einem gefahrenträchtigen Weltbottich. Der mag wohl im Durchschnitt laue Temperaturen bieten und die Flößer, solange es wenige sind, ernähren: Er umschließt sie aber wie für immer mit seiner undurchdringlichen Gewalt- und Machthülle, die den Menschen in eine ambivalent-urpassivische, zugleich geborgene und gepreßte Stellung bringt. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, was ursprüngliches Werfen und Treffen bedeuten konnte: den Anfang nämlich einer unendlich langsamen und mühevollen Gegenmachtergreifung, an deren Ende auch so treffende Sätze wie der cartesianische vom Menschen als maitre et possesseur de ta nature möglich wurden.

Mit den ersten Treffern kommen Menschen in die Zone eines neuartigen Rausches, sie springen auf und werden von revolutionären Hochgefühlen geschüttelt. Ja, man kann sagen, Ich-Orgasmen rufen das Subjekt hervor. Das Treffen setzt einen euphorischen Ich-bildenden Sadismus ins Werk, der wahrscheinlich den roten Faden der psycho-evolutionären Prozesse überhaupt darstellt. Es handelt sich um einen Sadismus, der das Ich aufgehen läßt - in dem Maß, wie es sich in der artilleristische Macht erfiihrt, ein Objekt untergehen zu lassen. Hier zuerst bricht der Mensch durch in die technisch-magische Zone. Ihrer Natur nach konnte diese zunächst keine andere als eine vernichtungs-magische sein; die Verwandlungs- und Herstellungsmagien werden dem Pfad folgen, den die Verneinungs-Magien mit Wurf und Schuß telekausal ausgetreten haben.

Denen, die Mühe haben, sich diese Zusammenhänge bildlich vorzustellen, kann unter Hinweis auf ein aktuelles Phänomen in der Subkultur des Sports geholfen werden. Man frage sich nur, in welchem Kontext wir zu Zeugen der heftigsten Lustäußerungen werden, die von menschlichen Wesen zu vernehmen sind. Die Gipfelpantomimen unserer Pornoköniginnen sind flache Komödien im Vergleich mit den Torschützenorgasmen, die im Zentrum aller Berichterstattungen über große Fußball-Turniere stehen. Es genügt, die Gesten der Helden auf dem Rasen nach erfolgreichen Torschüssen ernsthaft anzuschauen, um zu begreifen, daß hier Wildformen ekstatischer Genugtuungen durchbrechen, für die es im gesamten Spektrum zivilisatorischer Gesten kaum ein Äquivalent gibt. Es handelt sich, wollte man nur richtig zusehen, oft um Ausbrüche von einer geradezu sakralen Obszönität ... Das sind die Samstagsgebete der modernen Menschheit, die mitgeheult werden von Millionen von Zuschauern vor den Bildschirmen und in den Stadien. Es sind Spontangebete der aufbewahrten Frühgeschichte, neben denen die monotheistischen Sonntagsrituale gekünstelt wirken.

Ich bin davon überzeugt, daß diese maskulinen Schützen-Orgasmen und Treffer-Kulte Nachbildungen des primärsadistischen Jubels sind, mit dem die ersten Jäger und Werfer ihre anfänglichen, wie auch immer prekären Siege über die alte Natur zelebrierten. Die Geschichte des menschlichen Könnens folgt in ihrem Erfolgskern dieser sadistischen Achse, auf der das Subjekt im Triumph über das getroffene und vernichtete Objekt zu sich kommt. Die ominöse Grausamkeit von Kindern ist manchmal noch von dieser Art.

Macht, die sich selber will, strebt von Grund auf diesem Attraktionspol zu. Sie fiebert nach dem Hochgefühl, gegenüber einer an allen anderen Fronten übergewaltigen Natur endlich auch einige Siege erringen zu können. Sie tut erste Schritte zu einem Ausbruch aus dem Naturkessel - ballistische Vorspiele zu der metaphysischen Idee der Weltüberwindung."

Man kann es natürlich auch anders erklären:

Soft Power!


Chilly Gonzales Solo Piano II - Piano Vision Medley from Chilly Gonzales on Vimeo.

Mittwoch, Juni 20, 2012

Terror der Tugend

Diese Woche sind in der ZEIT Martenstein Festspiele. Im Artikel zum Titel lässt sich der Kolumnist (mal wieder) zum Terror der Tugend aus und beschreibt anhand einer kaum enden wollenden Liste von Beispielen, wie der Zwang zur Moral, die digital verstärkte permanente Beobachtung und Dauerkommunikation Fehlleistungen gnadenlos bestraft und fragt, ob unter solchen Bedingungen eigentlich noch die Besten oder nicht lediglich die Cleversten oder die Bravsten nach vorne kommen.

In einer Welt voller digitaler Blockwarte halten sich alle gegenseitig in der Geiselhaft permanenter Sanktionsbereitschaft. So wird sichergestellt, dass niemand mehr als man selber hat, sich mehr herausnimmt, traut. Das ist nicht nur nervig im privaten, sondern hat auch politische Folgen, wenn es - wie Martenstein zeigt - System und Infrastruktur wird. Wer es komplizierter haben will kann das bei Foucault nachschlagen: Der restriktive, die Abweichung bestrafende Staat - unter dessen Fuchtel das der Freiraum individueller Abweichung wenigstens noch denkbar ist - wandelt sich zum Erziehungsstaat, der durch viele Maßnahmen das Handeln und Denken der Menschen lenkt und die "richtige Einstellungen" hervorzubringen versucht, bis am Ende kein Gefängnis, keine Strafe mehr nötig ist, weil alle nur das wollen und tun, was sie wollen und tun sollen.

Aber - ist das dann noch eine Welt, in der man leben will?

Abgesehen davon schreibt Martenstein wie jede Woche eine famose Kolumne, diesmal über Berlin, die Stadt in der NIX klappt!

Montag, Juni 18, 2012

70! Bloody Hell!

Happy Birthday Macca!