Samstag, April 21, 2012

Sehen ohne Augenlieder: Cormack McCarthy "Die Straße."


"die Haltung des Vaters gegenüber allem anderen wird durch nichts als Angst und Misstrauen geprägt, durch den Wunsch nach Isolation und durch die Ablehnung aller Hilfeleistungen gegenüber anderen armseligen Menschen, denen die beiden gelegentlich auf der Straße begegnen.(...)
Im Prinzip leben alle anderen auch nach dieser Devise, und jeder
akzeptiert sie als das vorherrschende Gesetz.
Aber je länger man danach lebt, desto unmenschlicher droht man zu werden, 
gerade auch dann, wenn man sicher zu wissen glaubt, wer die Guten und 
wer die Schlechten sind, so wie der Vater, der seinem Sohn die Welt erklären 
muss, nachdem er einen Straßenräuber erschossen hat. (...) 

je häufiger sich ähnliche Vorfälle wiederholen, desto weniger vertretbar erscheint 
diese väterliche Haltung, und der Junge droht daran zu zerbrechen. 
Klarer als sein Vater spürt er, dass sie so nicht überleben werden, weder
moralisch noch körperlich. Denn was "die Guten" wirklich ausmacht, lässt
sich kaum noch erklären, wenn das, was früher einmal Nächstenliebe hieß,
nicht mehr zum Verhaltenskodex dazu gehört.

DIE WELT: Killekille
"Das wahre Entsetzen gehört den bedingungslosen Schriftstellern, Autoren
wie Joseph Conrad, Samuel Beckett oder Cormac McCarthy. Gegen ihren Horror
sind die Gespenstergeschichten eines H.P. Lovecraft oder Stephen King
bloßes Killekille.

Natürlich ist „Die Straße“ trotz allem ein tief religiöser Roman – mit
einem Messias im Zentrum. Der Junge trägt die Last der Welt und erlöst sie
von ihren Sünden. „Du bist nicht derjenige, der sich um alles Gedanken
machen muss“, sagt der Vater. „Der Junge blickte auf, sein Gesicht feucht
und schmutzig. Doch, das bin ich, sagte er. Ich bin derjenige.“ Ely, der
gar nichts glaubt, verwechselt ihn mit einem „Engel“."

Süddeutsche Zeitung: Gegen die Verrohung"Das humanistische Projekt schrumpft zusammen auf den Willen 
zu überleben, ohne töten zu müssen. Der Mann will die Reinheit des Jungen bewahren, 
dabei ist es längst der Junge, der durch sein Entsetzen den Vater davor bewahrt, 
im Kampf ums Überleben selbst zu verrohen."

FAZ: Sehen ohne Augenlieder
"plötzlich versteht man, was Heinrich von Kleist mit den 
"abgeschnittenen Augenlidern" gemeint hat in seinen "Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft". 
Da steht Kleist vor Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer", 
auf dem winzig klein ein Kapuzinermönch von hinten zu sehen ist - 
"der einzige Lebensfunke im weiten Reich des Todes" -, und er hat das Gefühl, 
selbst zu diesem Mönch zu werden: 
"Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, 
wie die Apokalypse da, und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit 
nichts als den Rahmen zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, 
als ob einem die Augenlider abgeschnitten wären."

Schrecken und Grauen sorgen beim bildbetrachtenden Kleist nicht für erhabene 
Gefühle, weil das Erhabene voraussetzt, dass der Betrachter Distanz hat und 
sich in Sicherheit wähnt. Diese Distanz aber ist mit den Augenlidern, 
die das Blickfeld begrenzen und die Augen schützen, entrissen. 
Und sie ist es auch bei McCarthy. Beim Lesen der "Straße" bleibt einem die 
Zuschauerrolle verwehrt. Man selbst wird mit Vater und Sohn zum letzten 
Menschen, empfindet keine Lust am Schrecken, nur blankes Entsetzen.“

Kundenrezension
"Es wird meist nur beschrieben und nicht so viel Wert auf Erklärungen
gelegt."

Lernen popernen: Friedrich Rückert

Gestern Abend im Deutschlandfunk ein sehr schönes Feature über Friedrich Rückert. Der deutsche Dichter und Orientalust lernte neben dem Arabischen und Persischen im Selbststudium Hebräisch, Koptisch, Türkisch, Armenisch, Syrisch und Sanskrit. Am Ende waren es 44 Sprachen, deren Literaturen er an den Universitäten von Erlangen und Berlin lehrte.

Rückerts Methode: Er legte sich das von Missionaren in die jeweilige Landessprache übersetzte neue Testament neben eine lateinische und griechische Ausgabe und entwickelte sich selbst auf diese Weise ein Wörterbuch und eine Grammatik. Auf diesem Weg lernte Rückert neue Sprachen innerhalb von sechs Wochen.

Ein Bonmot berichtet, dass eine Missionarsgruppe in ein asiatisches Land aufbrechen wollte und Rückert um Sprachunterricht bat. Der entgegnete, dass er die Sprache auch nicht kenne, wenn sie sich aber sechs Wochen gedulden könnten, könnten sie dann wiederkommen und er würde sie in der Sprache unterrichten.

Wie bei allen Biographien zieht der biographische Bericht in den Bann. Die beschriebene Lebensbahn zeichnet eine Kurve, über den Aufstieg, das Werden, die Entwicklung zu der Person, von der der Zuhörer/Leser aus der historischen Distanz und dem bereits verfügbaren kanonisierten Urteil schon weiß, wer im Werden begriffen ist.

So liest man eine Biographie über Goethe vom Moment der Geburt der Knaben-, Schul- und Studienjahre immer schon durch die Brille des Wissens um den kanonisierten Goethe. Man kann nicht einfach Schulgeschichten lesen, und in der biographischen Darstellung findet ja auch kein dokumentarisch objektives "Zeigen" der Knaben, Schul oder Studienjahre statt, sondern es ist eine auswählende und darin wertende Montage, die immer schon vom Wissen um das Ergebnis motiviert ist.

So folgt die biographische Erzählung einer eigenen Dramaturgie ist getragen von einem umfassenden Interesse des Erzählers an seinem Subjekt und entsprechend begeisternd. So ist es schön, dem Werden und der Entfaltung der schöpferischen Kräfte zu folgen, packend, in dem biographischen Bericht das Ringen mit Widerständen mitzuerleben, Momente des Glücks und Gelingens.

Und es fällt schwer, eine biographische Erzählung zu Ende zu verfolgen, weil man weiß, dass man sich am Ende von der Person, die man mit der biographischen Erzählung mit soviel Interesse begleitet hat, wird verabschieden müssen.

Zumeist muss man in den letzten Kapiteln gar noch trübe Abschnitte über schwächer werdende Kräfte, deutlicher hervortretender charakterlicher Mängel, stumpfer werdenden Schaffensglanz, vielleicht zunehmende Engstirnigkeit in Kauf nehmen.

Das Rückert-Feature jedenfalls leistet genau diese liebevolle Annäherung auf das Beste.

Mittwoch, April 18, 2012

Ute Eskildsen

Fotografie im Kunstmuseum ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit. Die Werke von Fotografen wie Thomas Ruff oder Andreas Gursky erzielen eben so hohe Preise wie gemalte Bilder. Als die Fotohistorikerin Ute Eskildsen ab 1978 in Essen die Fotografische Sammlung im Museum Folkwang aufbaute, war das noch ganz anders. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk spricht sie über ihre Arbeit und die aktuelle Ausstellung.

Auch DIE ZEIT widmet sich in ihrer aktuellen Ausgabe der "Doyenne der deutschen Fotoszene".