Sonntag, November 15, 2009

Rhetorik

Gleich mehrere Beiträge in der SZ der letzten Tage beschäftigen sich mit der (fehlenden) Kultur der freien Rede im politischen Alltag. So am Beispiel des jungen Gesundheitsministers. Dessen souveräner Auftritt vor den Mikrofonen und Kameras ist zwar nicht von einer Art, dass man einem Band "Große Rhetoren des 21. Jahrhunderts" bereits um ein neues Kapitel ergänzen müsste, sondern bewegt sich genau auf dem Niveau, das man von einem studierten Menschen, der seit Längerem und permanent in der Situation öffentlicher Rede geübt sein dürfte, erwarten dürfte und - wenn man auf andere Figuren seiner Alterskohorte blickt - auch von den Daniel Bars und KTvGs erfüllt wird.
Da aber das Berliner Niveau in Hinblick auf Außendarstellung insgesamt unterdurchschnittlich ist, genügt es eben schon, sich halbwegs manierlich anzuziehen, nicht übergewichtig zu sein, entspannt und unaufgeregt aufzutreten und stolperfreie Sätze zu formulieren, um als Wundertier bestaunt zu werden.

"Es gibt Menschen im Regierungsviertel, die darüber lästern, dass Rösler seine Reden selbst schreibt und in seinem Arbeitszimmer wie ein Schauspieler einstudiert. Nach Röslers Auftritt könnte man sich wünschen, diese Praxis würde im Abgeordnetengesetz für alle verankert." schreibt Guido Bohsem in der SZ vom 13. November

Der Kister Kurt wiederum schaut sich die rhetorischen Fähigkeiten des gegenwärtigen politischen Personals im Ganzen an und kommt zu dem Schluss:
"Bei den meisten Abgeordneten aber sind die Ansprachen ordentlich koordinierte Geräuschabfolgen und keine Reden im Sinne Herbert Wehners oder Joschka Fischers. Auch im 17. Bundestag dominieren die Vorleser, die Babbler wie die neue FDP-Fraktionschefin Birgit Homburger oder die Reden-halten-ist-auch-nichts-anderes-als-Wurstschneiden-Rhetoriker wie Angela Merkel." (Kurt Kister)

Burkhard Müller wiederum betrachtet die Bedingung für eine lebendige Debattierkultur und erkennt in der deutschen Entwicklung der Rede in ihren Erscheinungsformen der Predigt, des juristischen Plädoyers und des politischen Streits eine Entwicklung, die eben nicht auf den öffentlich ausgetragenen Kampf der Argumente ausgelegt ist. Die Predigt sei eine Einbahnstraße, die ihren Lauf von oben nach unten nimmt und nicht mit Widerspruch rechnet. Auch die juristische Argumentation gedieh in Deutschland nicht als Arena der freien Rede, da sich Prozesse im Gegensatz zu England, nicht in der Öffentlichkeit, "sondern in der Stille der Kameraljustiz" vollzogen. Im Anschluss an die nicht frei entwickelte, sondern an die Schrift gebundene, eben nur vorgetragene und nicht mit Widerspruch rechnende Predigt habe sich das Theater entwickelt. Auch hier wird die Mündlichkeit und Improvisation verbannt.

Als moralische Anstalt habe sich das Theater als eine Einrichtung konzipiert, in der eben nicht "live" ein Thema in einem einmaligen, dem unwiederholbaren Augenblick der Vortragssituation verbundenen Vortrag entwickelt wird (was beispielsweise das Wesen der Stand Up Comedy ist, die in den USA und England eben als zwar in ihren Themen und groben Verläufen und Gags festgeschriebene Kunstform praktiziert wird, aber eben in ihrer höchsten Kunstform die freie Improvisation einbezieht, die Fähigkeit, den geschriebenen Text, die konzipierten Gags in einer Weise zu präsentieren und auf die Vortragssituation, das Publikum, den Vortragsort usw. zu beziehen, dass sich das Überzeitliche, Bleibende, Immergleiche des geschriebenen Vortrags, der sogenannten "Routine" mit der Einmaligkeit der Vortragssituation verbindet und darin das Publikum anspricht, weil es erkennt, dass es im Hier und Jetzt des Vortrags angesprochen wird und gemeint ist und eben nicht das austauschbare Klatschvieh für abgestandene Partyscherze aus dem Witzbuch.), sondern durch den sorgfältig einstudierten Vortrag und die eingeübte Vorführung auf die Seelen schweigender Zuhörer eingewirkt werde.

Nicht umsonst werde die Bühne seinerzeit mit einer Kanzel verglichen, Dramaturgen und Schriftsteller als Volkserzieher an ihre volkspädagogische Verantwortung gemahnt.

"Für den entsetzlichen Fall, dass einer die Vorlage vergessen haben sollte, sitzt der Souffleur im Kasten, Anker der Schriftlichkeit auf der hohen See mündlicher Vergegenwärtigung. Hier wuchs nicht die freie Rede heran, sondern die Deklamation als expressive Wucherung, als die Kunst, die Augen und das R zu rollen.
" (SZ)

Insofern ist der Wunsch nach einer verbesserten Debattenkultur zwar eine nachvollziehbare Sehnsucht, ist aber eben auch an formale Bedingungen gebunden. Nur, wenn es mit einer geschliffenen Rede im Parlament tatsächlich etwas zu gewinnen gibt, eine Mehrheit umzubiegen, eine Sache durchzubringen ist (Wie beispielsweise auf Parteitagen - man denke an den legendären Mannheimer Parteitag, auf dem Oskar Lafontaine - nachdem die Bedingungen sich günstig zeigten, der Vorsitzende Rudolph Scharping angeschlagen, die Parteibasis bereit für einen Umsturz war - mit einer Rede den damaligen Vorsitzenden stürzte und sich als neuer Vorsitzender empfahl), wird die Rede im Parlament bedeutsam. Unter den heutigen Bedingungen parlamentarischer Demokratie werden die Dinge aber in den Ausschüssen ausgehandelt, weshalb die parlamentarische Debatte in diesem Licht betrachtet, überflüssig sei.

"Der Redner muss was wollen, und er muss hoffen können, das Gewollte mit seiner Rede zu erreichen, sonst ist sein Herz nicht dabei, und er redet schlecht. Wo jedoch vom spontanen Eindruck, den eine Rede hinterlässt, wichtige Entscheidungen abhängen, müssen die Zustände wenigstens teilweise anarchisch sein. Man sollte es sich sehr genau überlegen, ob man wirklich eine von Grund auf gebesserte, freie mündliche Redekunst haben will: Denn damit eine solche erwächst, müsste sich weit mehr ändern als die Geschäftsordnungen der Parlamente - womöglich mehr, als man für ein derartiges Ziel, das letztlich doch ein nebensächliches bleibt, in Kauf nehmen möchte. " (SZ)