Mittwoch, April 08, 2009

Zu welchem Zweck lernen?

Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung referiert Thomas Steinfeld aus verschiedenen Büchern, die sich kritisch mit der Umformung des Bildungsbereichs nach den Maßgaben der Wirtschaft auseinandersetzen.

"Ganze Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gibt es jedoch, die - unter den immergleichen Schlagworten wie "Wettbewerb", "Transparenz" und "Qualitätsmanagement" - in den vergangenen Jahren nach dem Modell des entfesselten Unternehmertums bis in ihre Fundamente hinein umgestaltet wurden, bei denen eine kritische Revision der Geschäftsgrundlagen bis jetzt nicht einmal als Möglichkeit erwogen wird - auch wenn ihre Vorbilder, eben die Wirtschaftsunternehmen, längst damit begonnen haben." (SZ)

Indem Zusammenhang fällt bei dem Zitat der "Lissabon-Strategie" aus dem Jahr 2000 noch einmal auf, was das Ziel der Europäischen Gemeinschaft war und ist. Nicht die Schaffung eines Lebensraumes, der jedem Bürger die Entfaltung seiner Talente ermöglicht. Nicht die Schaffung von Bedingungen für die Möglichkeit transparenter öffentlicher Selbstverwaltung und politischen Handlens mit dem Ziel der Erhaltung der Lebensgrundlagen (Stichwort Klimawandel).

Nein - im Duktus einer kombattanten Selbsta(la)rmierung ist es das erklärte Ziel, die "wettbewerbsfähigste" und dynamischste "wissensbasierte" Ökonomie der Welt hervorzubringen.

Ziel ist nicht der ganze Mensch, dessen umfassende individuelle Bildung eine Ahnung von Bildung gibt, wie dessen individuelle Biographie eine Idee dessen, was Menschsein überhaupt bedeuten kann, verstehbar macht - ohne sich darin zu erschöpfen.
Dies ist nicht das Ziel, zu dessen Erreichung eine funktionierende Ökonomie bedeutsam ist.

Umgekehrt ist die "wettbewerbsfähigste Ökonomie" das Ziel (wobei der Hinweis auf den Wettbewerb schon anzeigt, dass es hier eine Auseinandersetzung mit Gegnern gibt, womit in diesem Grundsatzprogramm schon die Logik von Gewinnern und Verlierern eingeschrieben ist), zu deren Erreichung Bildung den Rohstoff, das Material, die Munition liefert. Lernen ist nicht sich im interesselosen Umgang mit anderen Lernenden einstellende Selbstvervollkommnung, sondern ist "Training", ist Mobilmachung für die Wettläufe um knapper werdende Begehrenswerte und Zugangsberechtigungen für immer höher liegende Spielebenen, auf denen um höhere Einsätze gekämpft werden kann.

Ein bedenkenswerter Umstand, wenn gesellschaftliche Organisation auf der Logik des Gegeneinander, des Wettbewerbs, des Kampfes aufbaut, anstatt auf Solidarität und Miteinander. Da muss man sich auch nicht über U-Bahn-Schläger, Ballerspiele, Autismen, einzementierte Kinder und Amokläufer wundern. Sie stellen die Ausreißer an den Rändern einer zentrifugalen Organisation dar, die bei manchen Individuen, die aufgrund ihrer individualpsychiologischen Struktur (niedrige Toleranzschwelle, gering ausgeprägte Varianten soziokommunikativen Handelns), ihrer sozialen Ausstattung (geringes Einkommen, wenig Ausweichräume) und ihrer biogaphischen Bedingungen die unter der Oberfläche der zivilen, kontrollierten Strukturen und Abläufe liegende Gewalt und Deformationen sichtbar machen und in den deformierten Personen, deformierten Taten und Verhaltensweisen die Deformation der Gesellschaft aus der sie kommen, sichtbar macht.
In den Amokläufen, Kindermorden, der Verfettung ganzer Milieus und allem, was wie eine unerklärliche Abweichung erscheint, blickt die Gesellschaft in einen Spiegel, in dem sie sich nicht erkennen will.

Siehe auch Deutschlandfunk zu Richard Münch: "Globale Eliten - lokale Autoritäten", Suhrkamp-Verlag