In diesem Umformungsprozess seien die "Traditionen, Gewohnheiten, Jobs, mancherorts sogar ihre Sprache" der Working Class "neuen Wunschträumen geopfert worden, dem Promi-Kult, den Kreditkarten und der Scheinexistenz der Superreichen."
Man kennt diese britische Underclass in Deutschland unter dem Label "Prekariat". Es sitzt mit Arschgeweih im Unterschichtenfernsehen und/oder davor, verbrämt sich die eigene Trägheit zur Ghetto-Story, um der Fantasie einer Karriere als HipHop-Millionär nachzuhängen oder spitzt die eigene Perspektivlosigkeit auf das Nadelör einer der zahlreichen Castingshows zu, die helfen soll, die eigene trostlose Biographie doch noch in das Märchen des Superstars aus bescheidenen Verhältnissen wandeln, so wie es die Promiblätter vielfach an den bekannt gewordenen Exponenten, die wie Stellvertreter als Projektionsfläche eigener Sehnsüchte und funktionieren: "Ich habe es geschafft - Du kannst es auch schaffen!"
Wie die britischen Chavs sind auch die hiesigen Prekären, Schulverweigerer, Langzeitarbeitslosen, Geringqualifizierten, Bildungsfernen oder wie man sich auch immer bezeichnet zu einer sozialen Gruppe amalgiert, die für klassische politische Formungsprozesse nicht mehr zu gewinnen ist. Die klassischen Praktiken, in denen Massen zu kompakten handlungsfähigen Gruppen, Formen und Parteien gar geformt werden und sich selber formen, erreichen sie nicht mehr: Sie tauchen nicht mehr auf, in den Arbeitervereinen, Gewerkschaften, Jugendverbänden der Kirchen u.a. Sozialisationsagenturen, die bislang über Sprache, Riten und Traditionen die jeweilige katholisch oder evangelische, konservative oder arbeiterorientierte Prägung vermittelt haben.
Man kennt die Taubenschwärme gockelhaft aufgeputzter, mit billigen Dolce&Gabbana Kopien und zuviel Glitzer behangenen Jugendlichen, die in den Innenstädten und Malls herumhängen. Den imaginierten Laufsteg der Straße mit dem dröhenden Soundtrack ihrer HipHopMillionärs-Vorbilder aus den Handylautsprechern unterlegt, haben auch sie alle ihre Aufmerksamkeit und Energie den Wunsch-und Tagträumen verschrieben, Pop-Star, Schauspieler oder Model zu werden. Paris Hilton und die jeweiligen Tages-Stars der Casting-Maschine sind ihre Vorbilder.
Die Vorstellung "es" selber schaffen zu können haben sie lange aufgegeben. Nicht nur weil dies lediglich ein Versprechen auf mühsame Anstrengungen ist, anstatt eine Garantie auf Erfolg (weswegen sie für die biederen Broschüren von Arbeitgeberverbänden, Handwerkskammern oder den wohlmeinenden Worten von Berufsschullehrern und Beratern von den Arbeitsagenturen nicht erreichbar sind); sondern weil die Leitvorstellung die Fantasie eines strahlenden Triumphs als den Massen (und damit den anderen, gleichgestellten Ambitions- und Erfolglosen) enthobener (Pop-, Medien-, Film-, Model-)Star ist, neben die protestantische Ethik als nicht erstrebenswert erscheint.
Diese Fantasie lässt sie ihren trostlosen Alltag ertragen - weil sie ihn schon jetzt als ein Kapitel ihrer späteren Starbiographie interpretieren und eben nicht als aktiv zu gestaltenden Lebensraum begreifen und enthebt sie der Pflicht zur Selbstdisziplin und Selbstunterwerfung. In ihrer diffusen Vorstellung konzentrieren sie sich infantil auf das ihnen Zugängliche der Rezeptur des Starwesens: Aussehen und Attitüde.
Und so bevölkern hunderte Mini-Paris-Hiltons, 50-Cent-Verschnitte, aufgepumpte Egos und überdrehte Diven die Bürgersteige vor den Diskotheken, Eingangsbereiche vor den Mediengroßsupermärkten, Fußgängerzonen, Berufsschulen und "Maßnahmen". Dabei können sie sich sogar noch an realen Vorbildern orientieren: Geschäftstüchtige Exponenten einer deutschen Version der Aufstiegsgeschichte vom Ghettokid zum Superstar wie Bushido oder Sido haben es geschafft, die Lücke zwischen den allzu fernen Vorbildern US-amerikanischer Superstars und den hiesigen Jugendlichen mit einer eigens konfektionierten Erzählung zu schließen und ihren Profit daraus zu schlagen. Sie haben es geschafft, sich in die Verwertungskette der Ausbeutung der Unterschichtenträume einzufügen und eine nachgeordnete Konsumentengruppe aufzubauen.
Der ganze Artikel "Nutzlos, dumm, promisk" in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung
Weiterhin: "Ihr geht mir am Arschgeweih" Diedrich Diederichsen in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung