Dieser Tage steht der Sinn nach Lob, Wertschätzung und dem kräftigen Ausschenken von Komplimenten. Ein solches ist überfällig für Christine Dössel, Theaterkritikerin der Süddeutschen Zeitung. Diese führt - gemeinsam mit SZ-Filmkritikerin Susan Vahabzadeh - das famose Blog: "geht's noch...?!"
Dössel nutzt das Blog intensiv und mit ansteckend sprudelnder Fröhlichkeit. Ihre Einträge lesen sich wie Transkripte eines Anrufbeantworters mit unmittelbaren Berichten und Einschätzungen von gerade Gesehenem, Erlebtem oder Gehörtem.
Das Blog, dieses zwischen den Polen der durchkomponierten Genauigkeit und analytischen Distanz und Unaufgeregtheit eines Print-Artikels und der impulshaften Flüchtigkeitkeit mündlicher Äußerungen angesiedelte Medium, eignet sich aufs Beste, um diese Leidenschaft einzufangen und sichtbar zu machen.
Dabei ist es mehr als reines Sentiment, pure Emphase - hier wird auch gedacht, eingeordnet, bewertet, beurteilt. Aber es wird eben persönlicher be- und gesprochen.
Von eben dieser Verve, ehrlichen Begeisterung und Leidenschaft, die die Beteiligung der ganzen Person transportiert, sind die Einträge: Wenn Christine Dössel von den Protesten gegen die Schließung des Wuppertaler Theaters berichtet, ihren Grand-Prix-Fernseherfahrungen oder die traurige Arbeit der Verfassung von Nachrufen der im letzten Jahr verstorbenen Verehrten, Bekannten und Freunde resümiert, spürt man: hier schreibt jemand, die bis Oberkante Unterlippe mit Leidenschaft in ihrem Thema steht.
Und genau so, wie es dann auch zu lesen ist, stellt man es sich vor, wie es ist, wenn die studierte Theaterwissenschaftlerin zu einem Interview mit dem Schauspieler Rolf Boysen aufbricht und unmittelbar danach eine Freundin anruft, um ihr überlaufend vor Begeisertung in unverstellt schwärmerischen Worten, die sie so nie in einen Artikel stellen würde, von dem Nachmittag zu berichten.
Hier ist sie Groupie, hier darf sie's sein; und den verehrten Meister um ein Autogramm und ein gemeinsames Foto bitten und mädchenhaft von dem Charme des galanten Herrn schwärmen und eventuelle Kritikerinnenkritiker Sibylle-Berg-esk auf die Plätze zu verweisen:
"(Und wenn jetzt wieder welche unken: “Frau Dössel, haben Sie das nötig …!?”, dann sag´ ich: Jawohl! Und warum auch nicht? Das hier, liebe Leute, ist mein Blog … da darf ich sogar mal ICH zu mir sagen!)"
pathetischer Nachtrag:
In der Klausur zum Vorabitur galt es, sich mit Hugo von Hofmannsthals "Der Schwierige" zu beschäftigen. Der dunklen Erinnerung zufolge ging es in dem Drama, um einen schwermütigen Baron, Mitglied des österreichischen Adels, der ganz darin aufgeht, die eingespielten Rituale zu durchlaufen, Bälle zu feiern, Ehen zu arrangieren und zu tratschen.
"Der Schwierige" leidet an dieser Oberflächlickeit der Verhältnisse und erinnert darin an einen anderen, an der Welt leidenden Adeligen aus der Feder Hofmannsthals, Lord Chandos. Der Schwierige sucht eine echte Begegnung, eine echte unverstellte Person. Jedoch sind die ihn umgebenden Menschen so in die Rollenerwartungen verstrickt, verfolgen strategische Interessen, dass sich niemand so gibt, wie er oder sie ist - alle verfolgen irgendeine Agenda und benutzen ihr Verhalten als Instrument zur Erreichung klandestiner Ziele.
Entsprechend stark wirkt ein Clown, der Furlani, auf den Protagonisten. Desen Komik besteht darin, dass er in drolliger Offenheit nichts mit Absicht tut, sondern in offener Begeisterung Dinge nachmacht und sich an den Kunststücken selbst erfreut. Ihn interessiert kein persönlicher Vorteil, sondern die Sache selbst - eine solche Haltung muss komisch erscheinen, jemand, der derartig offen seine wahren Gefühle, seine ehrliche Begeisterung zur Schau stellt, muss ein Narr sein.
Wer Begeisterung derartig offenlegt, zeigt damit unverstellt sein Innerstes. Das macht angreif- und verletzbar - aber es berührt auch: Sich für etwas begeistern und dies mit anderen teilen, heißt, andere Menschen berühren. Das ist es, was an leidenschaftlichen Menschen so fasziniert. Sie stecken mit ihrer Begeisterung an und versetzen uns in die Lage, alle Rollenerwartung, gelernte Manierismen und Marotten zu vergessen und abzulegen und an die Quellen unseres Selbst, noch vor aller Verformung durch gesellschaftlich gelernte Bedenken, zu gehen.
Darum macht es soviel Freude, mit derartiger Begeisterung und unverstellter Ehrlichkeit geschriebene Zeilen zu lesen.