Sonntag, Dezember 23, 2012

Driving home for Christmas


"Endlich rissen mich die Frauen am Nebentisch in die Wirklichkeit zurück; verglichen mit Zeitunglesen ist noch das kleinste Fitzelchen Leben sensationell. Die Frau, die so lustig tönern "Hallo, Mutter" sagen konnte, hatte die Sprache wiedergefunden. "Die letzten Tage vor Weihnachten sind der reine Exodus", hob sie an. "Du musst mal am Bahnhof kucken, was da alles nach Hause fährt. Und wie die aussehen - wie eine besiegte Armee. Hundeaugen, hängende Schultern, gebeugt, gebückt, zerdrückt - das ist die Weihnachtsfreude." 

Sie lachte, hell und grimmig. "Und ich mache das auch! Weihnachten zu Hause! Drei Tage Gesichter wie eingeschlafene Füße - all diese leeren, sexlosen Gestalten. Wenn man sich wenigstens auf Vorrat mit Sex voll hauen könnte! Und ausgerechnet jetzt" - ihre Stimme nahm Wut an - "habe ich Schluss mit meinem Freund gemacht! Ganz schlechtes Timing."

Ihre Freundin kicherte. "Weißt du was?", sagte sie. "Ich auch. Bei mir ist auch gerade Finito. Ich wollte das einfach noch im alten Jahr erledigt haben. Und jetzt müssen wir beide" - ihr Kichern verstärkte sich - "jetzt müssen wir beide an Weihnachten ungefickt zu Mutter fahrn!"

Die beiden prusteten los und wiederholten es immer wieder: "Wir müssen mit der Eisenbahn / ungefickt zu Mutter fahrn!" Auch ich lachte nun mit - woraufhin die beiden schlagartig verstummten, und dann wurden wir alle drei rot, so rot wie eine Weihnachtsmannmütze."

Wiglaf Droste