Man wundert sich, dass in Zeiten umfassender medialer Versendung von O-Tönen eine Erscheinung wie der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger Karriere machen kann. Wer Oettinger einmal in ein Mikrophon hat quaken hören, sehnt sich danach. die Mein Jahr in der Niemandsbucht von Verona Pooth vorgelesen zu bekommen.
Mit seiner Quäkstimme hat Oettinger nun bei der Beerdigung des ehem. baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der am 1. April gestorben war, eine Rede gehalten, die derzeit mächtige Wellen schlägt. Empörend an der Rede ist, dass Oettinger den Nazirichter Filbinger nicht nur von Schuld freisprach, sondern ihn allen ernstes zum "Gegner des Nazi Regimes" machte.
Filbinger war 1978 vom Amt des Ministerpräsidenten zurückgetreten, als die Vorwürfe, er habe als Marinerichter in der Nazizeit an Todesurteilen mitgewirkt, immer schwerer wurden. Rolf Hochhuth hatte Filbingers Vergangenheit als "schrecklicher Jurist" thematisiert. Dagegen hatte Filbinger sich stets gewehrt und auch vor dem Landtag beteuert, als Marinestabsrichter Personen gerettet oder vor harter Strafe bewahrt zu haben, „wo irgendeine Aussicht auf Hilfe war“. Dabei habe er sogar „Leib und Leben“ riskiert. Es war v.a. die bis zuletzt nicht vorhandene Bereitschaf Filbingers, sich kritisch mit seiner Verstrickung mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, die ihn letztlich sein Amt kosteten. Unvergessen Filbingers Diktum "Was damals recht war, kann heute nicht Unrecht sein." Erhard Eppler attestierte dem früheren Marinestabsrichter ein „pathologisch gutes Gewissen“ und Egon Bahr fragte sarkastisch, wieviele Menschen einer umgebracht haben muss, dass er einen von ihnen vergessen kann.
In seiner Rede für den Verstorbenen erklärte Oettinger nun: "Anders als in einigen Nachrufen zu lesen, gilt es festzuhalten: Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil: Er war ein Gegner des NS-Regimes." und "Es bleibt festzuhalten: Es gibt kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte. Und bei den Urteilen, die ihm angelastet werden, hatte er entweder nicht die Entscheidungsmacht oder aber nicht die Entscheidungsfreiheit, die viele ihm unterstellen." Besonders diese Sätze rühren die Gemüter an. Rolf Hochhuth bezeichnet diese Sätze Oettingers als "unverfrorene Erfindung" und schildert detaillierter den Fall des von Filbinger gegen Kriegsende wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilten 22jährigen Matrosen Walter Gröger.
In der Tat ist man, wenn man diese Darstellung des Vorgangs gelesen hat, zum Einen irritiert darüber, warum in vielen Artikeln abstrakt von einem "Prozess" oder "Verfahren" gegen Gröger die Rede ist. Zum Anderen ist man vor dem Hinterrgund dieser detaillierten Umstände um so mehr entsetzt und empört darüber, wie sich Oettinger hinstellt und Filbinger als Widerstandskämpfer ausruft.
Der Darstellung Hochhuths zufolge, veruteilte Filbinger in britischer Kriegsgefangenschaft den jungen Matrosen und organisierte die Vollstreckung des Todesurteils , nahm als der den "Feuer"-Befehl erteilende Kommandant des erschießungskommandos auch aktiv Teil.
"Die britische "Gewahrsamsmacht", wie das im Rotwelsch der damaligen Epoche hieß, hatte in ihren Gefangenen-Lagern den Nazi-Offizieren die Gerichtsbarkeit über ihre Mitgefangenen belassen; daher der ebenfalls von den Briten gefangene Marine-Stabsrichter Filbinger noch darauf bestehen konnte, gegen seinen Mitgefangenen, den Matrosen Gröger, ein im Kriege, der längst durch die totale Kapitulation beendet war, wegen Fahnenflucht ergangenes Urteil noch zu vollstrecken - wozu nichts Filbinger genötigt hat als die Tatsache, dass er ein sadistischer Nazi war! Der so auch vom Stuttgarter Gericht damals expressis genannte "furchtbare Jurist". Ich weiß von keinem zweiten Todesurteil, das Deutsche als Gefangene einer der Siegermächte noch in deren Lagern an Deutschen vollstreckt haben."
Filbinger musste sich denn auch, um diesen 21-Jährigen erschießen zu lassen, von den Briten zwölf Gewehre ausleihen, denn selbstverständlich hatten die Engländer ihre deutschen Gefangenen entwaffnet. Dann hat Filbinger das Peloton zusammengestellt; und sich selber, für den Ablauf dieser mörderischen Veranstaltung, als der "Feuer!" befehlende Vollstrecker ins Protokoll gesetzt." (Quelle: SZ; dazu auch Hochhuth und das Urteil in der Faz)
Egal wie man es dreht und wendet: Entweder hat Oettinger einfach einen von einem Redenschreiber formulierten Text abgelesen, ohne sich über den Inhalt der Rede und dessen Bedeutung klar zu sein. Als vielbeschäftigter Ministerpräsident spricht er dauernd bei Anlässen, von denen er keine Ahnung hat und verlässt sich dabei blind auf seine Mitarbeiter. Das wäre schlicht dumm.
Oder er meint die Sätze tatsächlich so, wie er sie gesagt hat. Dann ist es empörend und Oettinger untragbar.
Viel wahrscheinlicher aber ist, dass Oettinger mit der Rede eine bewusst riskierte, kalkulierte Provokation zur taktischen Anbiederung an rechte Kreise, zum setzen einer Gesinnungs-Duftmarke platziert hat, damit der Walser lesende Konservative in der Wahlkabine weiß, wo er sein Kreuzchen zu machen hat. Hier ein bischen Landser-Romantik, dort ein wenig Wehrmachtsverklärung - das wird in konsevativen Kreisen gern gesehen. Die Kalkulation könnte so aussehen: PDS, Grüne, SPD, Gewerkschaften, Zentralrat der Juden werden protestieren - aber die gehören ohnehin nicht zu Oettingers Klientel. Deren erwartbare Proteste gehören zur Folklore des politischen öffentlichen Raumes dazu. Daran wird sich in 3 Wochen niemand mehr erinnern. Aber daran, dass die Absolutionsbedürftigen unter den Deutschen den Günndr als einen Guten in Erinnerung haben, darauf spekuliert eine solche Unverschämtheit. Wer redet heute noch über Roland Kochs unerträgliche ausländerfeindliche Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft? (Abgesehen von seiner Rolle in der Spendenaffaire der Hessen-CDU?)
Es scheint aber, dass der öffentliche Diskurs nicht so schnell, wie Oettinger oder seine Strategen gedacht haben, über diesen Vorfall hinweggehen und es scheint, als habe Oettinger nicht damit gerechnet, so wie er sich jetzt schweigend zurückzieht. Allein Angela Merkel, die mitten in der Schwarzgeldaffaire der Bundes-CDU mit einem Artikel in der FAZ zu einer notwendigen kritischen Distanzierung zum Übervater Kohl aufrief, als das noch längst nicht Mainstream war, beweist wieder einmal den richtigen Instinkt und erklärte, dass sie mit Oettinger am Freitag telefoniert und ihm gesagt habe, "dass ich mir gewünscht hätte, dass neben der Würdigung der großen Lebensleistung von Ministerpräsident Hans Filbinger auch die kritischen Fragen in Zusammenhang mit der Zeit des Nationalsozialismus zur Sprache gekommen wären". Sie hätte sich eine Differenzierung "insbesondere im Blick auf die Gefühle der Opfer und Betroffenen" gewünscht.
Die Forderungen nach Konsequenzen reichen von einer Entschuldigung und Richtigstellung über einen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten bis zum Rücktritt vom Vorsitz der Föderalismuskomission, wie Klaus-Uwe Beneter (SPD) sie vorbrachte. Weshalb der Rücktritt von dieser Funktion eine angemessene Äquivalenzhandlung sein soll, bleibt Beneters polit-arithemtisches Geheimnis.
Währenddessen erklärte der Vorsitzende der baden-württembergischen CDU-Landesgruppe im Bundestag, Georg Brunnhuber, dem Handelsblatt, "Wir stehen weiterhin zu Oettinger, ohne Wenn und Aber. (...) Jedes Wort war richtig, da kann man nur fünf Ausrufezeichen dahinter machen." Es sei "höchste Zeit" gewesen, dass Oettinger nach der "unsäglichen Kampagne" gegen Filbinger "deutlich gemacht hat, was Sache ist". "Alle, die sich aufgeilen in Sachen Filbinger, müssen wissen: Am Grabe sind alle Anfeindungen vorbei." Brunnhuber sagte, von der SPD habe er auch keine Kritik an Schriftsteller Günter Grass vernommen, der Mitglied der Waffen-SS gewesen sei: "Das wird akzeptiert: Die Linken dürfen bei der SS gewesen sein."
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